Vom 6. bis 9. Juni wählen die Europäer ein neues EU-Parlament. Eine gute Gelegenheit für einen Faktencheck über die beliebtesten Mythen über die Europäische Union.
1. Deutschland als Zahlmeister

Ist die an Stammtischen von Hobbybuchhaltern beliebte EU-Nettozahlerdebatte nun „sinnentleert“ oder schlichtweg „Blödsinn“? Man braucht jedenfalls nicht viel Fantasie, um an Günther Oettingers Worten abzulesen, dass der ehemalige EU-Haushaltskommissar kein großer Fan der Diskussionen war. Vielleicht gibt die Brüsseler Behörde den Saldo deshalb seit 2020 nicht mehr bekannt. „Diese Nettozahler- und Nettoempfänger-Sichtweise wird der Komplexität des EU-Budgets nicht gerecht und kann daher in dieser Form nicht mehr angewandt werden“, sagte einmal der aktuelle EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn.
Die Folge: Es ist äußerst schwierig bis unmöglich, den genauen Betrag Deutschlands an die EU zu bestimmen. Nur so viel: Die Bundesrepublik steuerte 2022 netto mit zwischen 16,7 und etwa 19 Milliarden Euro – je nach Rechenweise – die höchste nationale Summe zum EU-Haushalt bei. Das heißt: Die größte Volkswirtschaft in der Gemeinschaft zahlt deutlich mehr ein, als sie aus den Fördertöpfen der Union, zum Beispiel für die Landwirtschaft oder strukturschwache Regionen, wieder zurückbekommt. Konkret bedeutet das, dass mit durchschnittlich 237 Euro pro Kopf im Jahr 2022 niemand so viel an Brüssel bezahlt hat wie die deutschen Bürger.
Lettland, Litauen und Estland erhalten dagegen am meisten zurück, wobei die Summen aufgrund der kleinen Volkswirtschaften vergleichsweise gering ausfallen. Bei den absoluten Zahlen führen Polen, Rumänien und Ungarn die Liste der größten Nettoempfänger an.
Doch bevor der Ärger bei den Europaskeptikern aufkocht, darf hinzugefügt werden, dass schlichtes Gegenrechnen kaum der Lage gerecht wird. Zum einen besagen die Regeln, dass die wohlhabenden Länder die schwächeren Regionen unterstützten, damit sich die Lebensverhältnisse nach und nach angleichen. Zum anderen ist Deutschland deutlich abhängiger vom Export als die meisten anderen. Die hiesigen Unternehmen profitieren also massiv.
2. Windeln für Kühe, Maße für Kondome
Müssen Almkühe bald Windeln tragen? Lassen irre Eurokraten nur noch Kondome bis zu einer Breite von 54 Millimetern zu, sodass besser bestückte Gentlemen in ihrer Schlafzimmer-Freude eingeschränkt werden? Und – der Skandal schlechthin – schreibt Brüssel die maximal zulässige Krümmung von Salatgurken vor? Letzteres ist das ultimative, etwas in die Jahre gekommene Symbol für die gefühlte Regulierungswut der Behörde. Kein anderer Rechtsakt wird bis heute so oft angeführt, um EU-Bashing anschaulich zu machen.
Dabei schaffte die EU-Kommission die 1988 eingeführte Normierung der Gurkenkrümmung und anderer Obst- und Gemüsesorten im Sommer 2009 wieder ab. Da zeigte sich, dass die Gemeinschaft es schon wieder nicht allen recht machen konnte.
Denn abermals hagelte es Kritik, dieses Mal vonseiten des Großhandels. Dieser hatte auf die Festlegung des Krümmungsgrades gepocht. Sie ermöglichte es, rasch festzustellen, wie viele Gurken in einen Karton passen. Sind die in Europa verkauften Kürbisgewächse deshalb – auch ohne Verordnung – bis heute so gerade wie zu Regulierungszeiten?
Während die Sache mit den angeblichen Normgrößen für Kondome vom berühmtesten EU-Skeptiker Boris Johnson, seines Zeichens Ex-Premierminister Großbritanniens, erfunden wurde, waren Windeln für Kühe in Brüssel nie im Gespräch, zumindest nicht direkt.
Die EU-Kommission zog es tatsächlich in Betracht, zu regulieren, wie viel Dünger künftig auf Hanglagen ausgebracht werden darf. Hintergrund dafür waren die zu hohen Nitratwerte im Grundwasser. Mit dem überdrehten Windel-Aufschrei der einflussreichen Bauernlobbyisten verschwanden auch solche Pläne wieder.
Ein weiterer Mythos, der im Übrigen falsch ist: Das gute alte Glühbirnenverbot stammt nicht aus Brüssel, sondern aus Berlin. Der damalige Umweltminister Sigmar Gabriel hatte 2007 die Idee, die Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel setzte sie in Brüssel durch, auch weil sie sich gerne als buchstäblich leuchtendes Vorbild in Sachen Klimaschutz präsentieren wollte.
3. Aufgeblähter Verwaltungsapparat

Ist die EU ein aufgeblähter Verwaltungsapparat mit überbezahlten Mitarbeitern? Kommt auf die Sichtweise an. Es gehört zu den Lieblingsbeschäftigungen von EU-Beamten, sich selbst arm zu rechnen. Echte Brüsseler können darüber nur lachen oder weinen – oder beides. Denn die überdurchschnittlich bezahlten Eurokraten treiben die Mietpreise in der belgischen Hauptstadt in die Höhe.
Wer bei einer europäischen Institution beschäftigt ist, der ist von der nationalen Steuerpflicht befreit, was insbesondere im Hochsteuerland Belgien einen großen Unterschied macht. Stattdessen haben die EU-Beamten lediglich eine „amtsinterne Steuer“ zu entrichten, die deutlich geringer ist.
Ein Argument, das jeder hört, der nur den Anflug von Kritik am Verwaltungsapparat wagt: In der EU-Kommission arbeiteten „nur“ rund 33.000 Menschen, wird stets angeführt. Allein die Stadtverwaltung München hat mehr Mitarbeiter. Laut Brüsseler Behörde werden nur etwa sechs Prozent der Gesamtmittel für Verwaltung und Personal ausgegeben. Insgesamt beschäftigen die EU-Institutionen etwa 60.000 Beamte.
Verglichen mit dem öffentlichen Dienst in Mitgliedstaaten wie Deutschland, nehme sich die europäische Verwaltung also „bescheiden“ aus angesichts der europäischen Gesamtbevölkerung von 450 Millionen Menschen. Es mag sein, dass das EU-Budget im Vergleich zu Einzelstaaten nicht besonders hoch ist, trotzdem gibt es Sparpotenzial, etwa im überdimensionierten Pressedienst.
4. Demokratiedefizit

Hat die EU ein Demokratiedefizit? Da ist was dran. Das Europäische Parlament wird zwar in der zweitgrößten demokratischen Wahl der Welt alle fünf Jahre direkt bestimmt. Zudem sitzen im Ministerrat Vertreter gewählter Regierungen der Mitgliedstaaten. Trotzdem, das demokratische Gefüge der Union weist etliche Schwachstellen auf. Nicht nur, dass die Bürger ein europäisches Parlament bestimmen, wobei lediglich nationale Parteien zur Wahl stehen. Auch dass es in der EU kein gleiches Stimmrecht gibt, sorgt regelmäßig für Kritik.
Selbst das Bundesverfassungsgericht legt sich immer wieder mit Brüssel an. Denn eine zypriotische Europaabgeordnete übt deutlich mehr Einfluss auf den Entscheidungsprozess aus als etwa ein deutscher Volksvertreter. So rechnen die Zweifler gerne vor, dass ein EU-Parlamentarier in Deutschland oder Frankreich 857.000 Bürger vertritt, in Luxemburg 83.000 und in Malta 67.000 Menschen.
Das heißt, ein Politiker aus der Bundesrepublik repräsentiert mehr als zehnmal so viele Wähler als ein Abgeordneter aus Luxemburg oder Malta. Dementsprechend lautet der noch nett ausgedrückte Vorwurf des Bundesverfassungsgerichts: Die EU sei „überföderalisiert“.
Hinzu kommt, dass die Kompetenzen des Hohen Hauses Europas weiterhin schwach sind, es fehlen etwa ein Initiativrecht, also die Möglichkeit, Gesetze vorzuschlagen, und ein uneingeschränktes Budgetrecht. Das Parlament muss dem Großteil der Rechtsakte zwar zustimmen, aber die wirkliche Macht liegt weiter beim Rat, dem Gremium der 27 Mitgliedstaaten.
Und zunehmend bei der EU-Kommission. Der Beamten-Apparat ist von den Bevölkerungen nicht durch ein Votum legitimiert, in den vergangenen Jahren wurden jedoch viele Entscheidungen unter Berufung auf einen Notfall-Paragrafen am Parlament vorbei getroffen, weil es schnell und unkompliziert gehen muss. Nicht gerade demokratisch.