Eigentlich liegt alles auf dem Tisch: Die Argumente sind ausgetauscht, die Verträge geschrieben. Nur die Unterschrift fehlt noch. Die Schweiz ziert sich, die aktualisierten Vereinbarungen mit der Europäischen Union abzuschließen.

Seit 1972 ist die Eidgenossenschaft per Freihandelsabkommen mit der EU verbunden, seitdem hat die Vernetzung immer weiter zugenommen. In über 100 Einzelabkommen sind die Verhältnisse zwischen der EU und der Schweiz aktuell geregelt, weil das Alpenland das neue Rahmenabkommen bislang ausschlägt. Und ein richtiges Mitglied wollte die Schweiz eh nie werden.

Kein Land profitiert mehr vom EU-Markt

Es ist kurios: Kein Land profitiert mehr vom europäischen Binnenmarkt als die Schweiz. Das legt zumindest eine Studie der Bertelsmannstiftung von 2019 nahe, die zeigt: Vor allem die urbanen Zentren wie Zürich oder Genf konnten den Wohlstand jedes einzelnen Bürgers dort jährlich um etwa Dreieinhalbtausend Franken erhöhen.

Zum Vergleich: Im Durchschnitt profitieren EU-Bürger mit 840 Euro mehr pro Kopf durch den gemeinsamen Wirtschaftsraum; in Deutschland sind es 1064 Euro, am unteren Ende findet sich Bulgarien mit einem Plus von 193 Euro, ganz oben steht die Schweiz, wo es durchschnittlich 2914 Euro mehr sind.

Schweiz profitiert auch von der Sicherheitsarchitektur

Gerade wegen solcher Zahlen wird der Schweiz häufig Rosinenpickerei vorgeworfen. Stimmt das also? „In der EU ist den meisten inzwischen ziemlich egal, was die Schweiz macht“, sagt Tim Guldimann, der von 2010 bis 2015 Schweizer Botschafter in Berlin war und sich in der Europa-Allianz engagiert, die sich für engere Beziehungen des Landes mit der EU einsetzt.

Tim Guldimann, früherer Diplomat, betreibt heute den Podcast „Debatte zu Dritt“ mit Gästen aus Politik und Kultur zu gesellschaftlichen ...
Tim Guldimann, früherer Diplomat, betreibt heute den Podcast „Debatte zu Dritt“ mit Gästen aus Politik und Kultur zu gesellschaftlichen Fragen. | Bild: Michael Sieber

Der wirtschaftliche Vorteil ist dabei nicht die einzige Rosine – Sozialdemokrat Guldimann betont vor allem auch die sicherheitspolitische Einbettung der Schweiz in „ein stabiles rechtsstaatliches Umfeld“, gemeinsam mit dem auch neutralen Österreich ist die Schweiz außerdem umgeben von Nato-Mitgliedsstaaten, was ihr zusätzliche Sicherheit bringt – und das zu vergleichsweise geringen Kosten.

Das Land hat 2023 0,7 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für ihr Militär ausgegeben, in der Nato wird von Mitgliedern zwei Prozent erwartet. Von dieser Umgebung profitiere die Schweiz, sagt Guldimann, „das ist jetzt relevanter als vor drei Jahren.“ Das ist durchaus auch der Schweizer Politik bekannt, Bundespräsidentin Viola Amherd sagte erst Ende Mai, man müsse die eigene Verteidigungsfähigkeit stärken.

Verhandlungen zum Schein

Aber zurück zum Rahmenabkommen. Obwohl von der EU keine weiteren Änderungen zu erwarten sind, werden in Schweizer Medien derzeit die roten Linien für Verhandlungen diskutiert. Für den Rottweiler EU-Abgeordneten Andreas Schwab (CDU) eine Illusion: „Die Schweizer Seite will in ihrer Öffentlichkeit den Eindruck vermitteln, als ob jetzt richtig hart verhandelt würde.“ Dabei seien die Verhandlungen im Prinzip fertig – und ohnehin ließe sich in öffentlich zugänglichen Gesetzen nachlesen, was die EU machen kann und was nicht.

Der Europaabgeordnete Andreas Schwab posiert beim Landesparteitag der CDU Baden-Württemberg.
Der Europaabgeordnete Andreas Schwab posiert beim Landesparteitag der CDU Baden-Württemberg. | Bild: dpa/Jan-Philipp Strobel

Guldimann sagt, im Rest Europas sei es zurzeit überhaupt kein Thema, ob das Rahmenabkommen nun unterzeichnet wird oder nicht. Die Zeit laufe aber gegen die Schweiz, die nicht realisiere, dass die Wirkung bestehender Verträge ohne Anpassungen laufend erodiert.

Gehen die Debatten in der Schweiz und der EU also aneinander vorbei? Diesen Eindruck weckt jedenfalls auch Bundespräsidentin Amherd, die kürzlich sagte, die Verhandlungen begännen gerade erst – in Europa dürfte sie mit diesem Eindruck alleine stehen. Sie macht aber auch Druck im eigenen Land, warnt vor dem „Risiko, dass große Unternehmen den Standort Schweiz verlassen“, wenn man noch einmal scheitere.

Die Schweizer Bundespräsidentin Viola Amherd.
Die Schweizer Bundespräsidentin Viola Amherd. | Bild: TOBIAS SCHWARZ

„Wenn es kein neues Abkommen gibt, wird der Status Quo für die Schweiz automatisch immer schlechter“, sagt der frühere Diplomat Guldimann. „Ein ehemaliger Botschafter eines EU-Staates in Berlin hat mal gesagt, bei jedem anderen Land würde man mit dem Kopf schütteln, wenn es sich so verhielte“, erzählt er. „Gegenüber der Schweiz gibt es begründete oder unbegründete Sympathien, die dazu verleiten zu sagen: Jetzt schauen wir doch mal, wie wir das lösen können.“

In der Schweiz sind viele skeptisch, wenn es um die EU geht

Ein Teil der Wahrheit ist aber auch: In der Schweiz sind viele skeptisch, wenn es darum geht, sich der EU weiter anzunähern. Die staatstragende, rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei SVP mobilisiert in den entscheidenden Abstimmungen regelmäßig Mehrheiten mit dieser Skepsis.

Das hat auch historische Gründe. Tim Guldimann beschreibt die Schweizer Geschichte als einen Widerspruch zwischen Abgrenzung und Verbindung. „Und darin ist ideologisch die Abgrenzung viel stärker als die Verbindung.“ Das führe in einen Widerspruch für die Schweizer: Einerseits die massive wirtschaftliche, soziale, kulturelle Verflechtung der Gesellschaft mit ihren Nachbarn, die auch in großer Zahl in die Schweiz migrieren. Und andererseits das überhöhte Abgrenzungsbedürfnis, weil man sich historisch autonom versteht.

Keine große Verheißung

Gerade Deutsche schätzten das oft falsch ein, so Guldimann: „Sie denken dann, weil wir die gleiche Sprache sprechen und zum gleichen Kulturraum gehören, sind wir auch gleich.“ Dabei übersähen sie die grundsätzlichen Unterschiede in der politischen Kultur.

Und anders als für die gegenwärtigen EU-Mitglieder ist ein Beitritt für die Schweiz nicht mit einer großen Verheißung verknüpft. Mit dem Maastrichter Vertrag über die Europäische Union verband sich für die Unterzeichner in West- und Südeuropa 1992 ein neues Wohlstandsversprechen. Für die Länder der stufenweisen Osterweiterung ab 2004 bedeutete der Beitritt Sicherheit für die zurückerlangte nationale Souveränität nach dem Zerfall von Sowjetunion und Jugoslawien.

Sorge um das Lohngefüge

Also, ist die Schweiz ohne die EU besser dran? Die Frage lässt sich eigentlich gar nicht beantworten – die Schweiz in ihrer jetzigen Form ist ohne die Europäische Union überhaupt nicht denkbar. Dafür ist sie über zahlreiche große und kleine Abkommen viel zu eng mit ihren Nachbarn verflochten.

Eine volle EU-Mitgliedschaft würde die Schweiz wohl am ehesten auf der Gefühlsebene treffen: Sie bedeutete Autonomieverlust. Und, das wäre dann doch eher handfest: Die Eidgenossen trügen mehr sicherheitspolitische Verantwortung. Russlands Krieg in der Ukraine hat ihnen vorgeführt, wie fragil die eigene Neutralität – immerhin die älteste der Welt – inzwischen geworden ist; seitdem jedenfalls wird ständig darüber diskutiert.

Ein anderes Thema, das zumindest die Schweizer Gewerkschaften umtreibt, ist der Lohnschutz. Sie fürchten, dass günstige Arbeitskräfte aus den Nachbarländern das Lohngefüge im Land kaputt machen. Deshalb, so hieß es zuletzt Ende März, wollen sie weiter mit der EU verhandeln. Die Bereitschaft auf der Gegenseite dürfte überschaubar sein.