Udo Muras, Michael Novak und Harald Pistorius

Ein russisches Kriegsgefangenen-Lager, irgendwo im sibirischen Nirgendwo. An einem Montagmorgen ertönt die Stimme des Kommandeurs über die Lautsprecher. Die deutschen Gefangenen, die neun Jahre nach Kriegsende immer noch auf die Heimkehr hoffen, glauben nicht, was sie hören: „Männer, ihr habt heute frei, ihr müsst nicht arbeiten – eure Nationalmannschaft ist Weltmeister geworden!“

Ein Moment, der nie vergessen wurde

Die Freude, den Jubel der Kriegsgefangenen hat einer von ihnen in einem Brief an Fritz Walter beschrieben. Auch er, der nicht am Fußball interessiert gewesen sei, habe diesen Moment nie vergessen, der ihnen allen an diesem 5. Juli 1954, einen Tag nach dem „Wunder von Bern“, etwas Lebensmut und Hoffnung schenkte.

Viel hätte nicht gefehlt, und Fritz Walter wäre auch in einem solchen Lager gelandet. Er war nach Kriegsende in russische Gefangenschaft geraten. In einem Auffanglager im rumänischen Marmaras-Sziget wartete er im Sommer 1945 mit Hunderten deutscher Soldaten auf den Transport nach Sibirien.

„Spiel mit!“

Ausgemergelt, kahlgeschoren und hoffnungslos schaut Walter eines Abends zu, als auf dem Kasernenhof gekickt wird. Als ihm der Ball zufällig vor die Füße rollt, vergisst er alles um sich herum; kunstvoll spielt er den Ball zurück ins Feld. „Spiel mit!“, rufen die ungarischen Wachsoldaten des Lagers, die eine Mannschaft bilden.

Und Walter spielt, für die Mannschaft „Lagerpolizei“ gegen das Team „Lazarett“. Wackelig ist er auf den Beinen, doch seine Fußballkunst ist unübersehbar. Er wird bestaunt, beklatscht und schließlich erkannt: Einer der Soldaten hat ihn 1942 in Budapest gesehen, beim deutschen 5:3-Sieg gegen die Magyaren.

Stolz schleppen sie Fritz Walter zum russischen Kommandanten – ein Fußballfreund, der seine Lagermannschaft gegen rumänische Teams aus der Gegend antreten lässt. Und der nun einen Star hat. Immer wieder verschiebt er den Abtransport seines besten Spielers. Dennoch hätte er ihn irgendwann in einen der Züge nach Sibirien durchwinken müssen.

Der Kommandant unterschreibt

Doch dann sorgen Walters Kumpel aus der Wachmannschaft dafür, dass er auf die Liste der französischen Heimkehrer kommt. Weil Kaiserslautern ja in der französischen Zone liegt… Der Kommandant unterschreibt – wider besseres Wissen und angeblich mit einem Augenzwinkern. Im Oktober 1945 ist Fritz bei seiner Familie in Kaiserslautern – er hat den Krieg überstanden, jahrelange Gefangenschaft bleibt ihm erspart. Weil er dem Reiz eines rollenden Balles nicht widerstehen konnte.

Der größte Triumph in Bern

Er selbst hat es so beschrieben: „Viele Fußballspiele lagen hinter mir, darunter nicht wenige große. Viele folgten, wie man weiß, der größte Triumph war der Sieg in Bern. Das wichtigste Spiel meines Lebens aber hatte ich im Lager von Marmaros-Sziget gespielt, oder richtiger, ich hatte es spielen dürfen.“

Begonnen hatte der Krieg für ihn fünf Monate nach seinem Länderspieldebüt: Am 5. Dezember 1940 wurde Walter zur Wehrmacht eingezogen. Als 1942 der internationale Spielverkehr eingestellt wurde, hatte er 24 von 26 Länderspielen mitgemacht, dabei 19 Tore erzielt.

Soldaten durften spielen, wo sie stationiert waren

Der Spielbetrieb wurde als Mittel zur Hebung der Truppenmoral mühsam aufrechterhalten. Soldaten durften dort spielen, wo sie stationiert waren – was nichts an ihrer Mitgliedschaft im Stammverein änderte. So kam es für Fritz Walter 1943 zu Intermezzi bei der TSG Diedenhofen (Lothringen), der TSG Saargemünd, einer Berliner und einer Pariser Soldatenauswahl – und bei den Roten Jägern.

So nannte sich die berühmteste der Soldatenmannschaften; sie war das Steckenpferd des deutschen Jagdfliegers: Major Hermann Graf, ein Freund von Reichstrainer Sepp Herberger und ein talentierter Torwart, nutzte seine Popularität und seinen Einfluss, um etliche der besten Fußballer des Landes in seine Einheiten zu holen.

Die Geburt der Roten Teufel

Der malariakranke Fritz Walter war als Infanterist in schwieriger Lage auf der Insel Elba gelandet, als er Ende 1943 einen Versetzungsbefehl zu Grafs Jagdgeschwader 11 nach Jever erhielt. Herberger hatte Graf gebeten, seinen Lieblingsschüler zu retten. Als Fritz Walter nach dem Krieg seinen FCK – als Spielertrainer! – wieder aufbaute, setzte er eine neue Trikotfarbe durch. Ganz in Rot spielte nun die Walter-Elf, eine Verneigung vor Graf und den Roten Jägern. So wurden die Roten Teufel geboren.

Der Sporthistoriker Markwart Herzog hat die Kriegsjahre im Leben von Fritz Walter akribisch erforscht. Er hat nicht nur alle soldatischen und fußballerischen Daten zusammengetragen, sondern auch die Frage beleuchtet, die die „Süddeutsche Zeitung“ vor einigen Jahren gestellt hat: „War Fritz Walter ein Nazi?“ Für Herzog steht nach aufwendigen Recherchen fest: „Auf Fritz Walter lastet nicht der geringste Schatten.“

Die, die den Menschen Walter kannten, brauchten diese Bestätigung nicht.