Was glauben Sie, wie werden Sie sich fühlen, wenn Sie Ihr letztes Spiel abgepfiffen haben? Wehmütig? Dankbar? Vielleicht sogar erleichtert?

Felix Brych: Ich bin stolz darauf, was ich erreicht habe und dankbar, dass mein Körper durchgehalten hat. Ich bin glücklich und verlasse mit sämtlichen Rekorden das Leben des Schiedsrichters. Natürlich werde ich auch wehmütig sein. Es war immer etwas Besonderes, auf dem Platz zu sein. Und ja, ich werde erleichtert sein, dass es vorbei ist.

Sie wirken auf dem Platz stets gefasst. Kann man Gefühle während des Spiels gänzlich ausblenden?

Brych: Als Privatmensch bin ich ganz anders, während der Spiele verstecke ich mein Ich. Als Schiedsrichter habe ich gelernt, meine Emotionen auszuknipsen. Emotionalisiert trifft man Entscheidungen, die nicht sachlich und nicht rational sind. Das habe ich über
die Jahre perfektioniert. Gerade in großen Champions-League-Spielen war ich beinahe komplett emotionslos.

Wer emotionslos und kühl agiert, wirkt schnell arrogant.

Brych: Stimmt. Ich hatte stets gerne den Ruf, aalglatt und arrogant zu sein – obwohl ich das als Mensch überhaupt nicht bin. Teils wollte ich bewusst so wirken, um einen Schutzschild aufzubauen. Distanz hilft, damit die Spieler vorsichtig sind. Das ist ein Faustpfand. In großen Spielen im Ausland hätte ich sonst keine Chance gehabt. Durch Unnahbarkeit konnte ich Kontrolle ins Spiel bringen. Ich bin nicht angetreten, um beliebt zu sein. Dann hätte ich Schauspieler werden müssen oder Comedian. Ich bin angetreten, um erfolgreich zu sein und dieses Spiel zu kontrollieren. Zunächst kommt der Respekt – und den habe ich mir mit dieser Fassade
erarbeitet.

Aus welcher Emotion heraus haben Sie entschieden aufzuhören?

Brych: Das war ein Prozess, der sich über Wochen und Monate hingezogen hat. Ich hatte das Ende bereits angesteuert, ehe ich mich schwer verletzte. So wollte ich nicht aufhören. Als Protagonist in der Bundesliga auf dem Platz zu stehen, das ist ein Traum. Ich habe das geliebt. Aber nach über 830 Profispielen und im Alter von bald 50 Jahren gehe ich körperlich über die Grenze. Das Risiko einer weiteren Verletzung wollte ich nicht mehr eingehen.

Spieler produzieren auf dem Feld Fehler, während von Schiedsrichtern fehlerloses Agieren eingefordert wird. Wie schwierig ist es, mit dieser Erwartungshaltung umzugehen?

Brych: In großen Spielen kann ich nur überleben, wenn ich nahe an die Perfektion komme. Machst du diesen einen großen Fehler, dann wirst du zerrissen. Das muss ich akzeptieren und es gehört zum Job dazu. Für mich war immer der Anspruch, dieser Perfektion nahezukommen. Dafür habe ich körperlich, mental und spieltaktisch unglaublich viel investiert. Ich erinnere mich an ein
Champions-League-Halbfinale, in dem der Schiedsrichter ein Bayern-Tor aberkannt hat. Dafür hat er sich später entschuldigt.
Bayern-Trainer Tuchel sagte, das sei nicht die Zeit der Entschuldigungen. Und er hatte recht. Entschuldigungen werden auf diesem Niveau nicht akzeptiert. Du musst liefern – und das war mein Anspruch.

Bild 1: Felix Brych über Herausforderungen und Erlebnisse als Schiedsrichter im Interview
Bild: Swen Pförtner

Sie wollten perfekt sein – und ermöglichten im Oktober 2013 das Phantomtor von Stefan Kießling in Hoffenheim.

Brych: Für mich persönlich war das dramatisch, plötzlich wackelte meine erste WM-Teilnahme. Das war krass, die Kritik
zu kanalisieren. Drei Tage später habe ich Champions League in Mailand gepfiffen. Ich war gebrandmarkt, alle Kameras waren auf mich gerichtet. Wieder sein Gesicht zu zeigen, dieser Druck. Das war eine extreme Zeit. Ich habe in dieser Phase angefangen, mit einem Psychologen zu arbeiten. Für meine weitere Karriere hat es mir letztlich unglaublich geholfen.

Dem Profifußball wird eine Vorbildfunktion attestiert. Überhöht man damit den Sport oder ist das gerechtfertigt?

Brych: Die Position des Fußballs in der Gesellschaft ist mir manchmal zu dominant. Ich habe immer versucht, Gesellschaft, Politik und Sport zu trennen. Ich diene gerne als Vorbild für die nächste Schiedsrichtergeneration, aber nicht für die Gesellschaft. Meine Werte verkörpere ich auf dem Platz.

Welche Werte möchten Sie vermitteln?

Brych: Fairness, Ehrlichkeit, auch Berechenbarkeit. Ich wollte immer als Sportler gesehen werden. Und natürlich wollte ich, dass beide Mannschaften sich gerecht behandelt fühlen.

Wie berechenbar sind Spieler auf dem Platz? Haben Sie eine Kartei mit Persönlichkeitsprofilen?

Brych: Exakt. Als ich jung war, prägte Law and Order das Schiedsrichterverhalten. In meiner Generation hat man dann Kontakt zu den Spielern aufgebaut. Ich war einer der Ersten, der sich extrem vorbereitet und so neue Maßstäbe gesetzt hat. Ich bin noch weiter gegangen und habe von Spielern Psychogramme erstellt und versucht, Kontakt aufzubauen. Auf dem Platz stehen ganz verschiedene Typen. Wenn ich Messi angesprochen habe, hat er nicht reagiert, sondern sich gestört gefühlt. Der wollte Fußball spielen. Ramos und Chiellini wollten permanent reden – was auch nicht ging.

Sie waren zweimal Weltschiedsrichter. Wie verschafft man sich auf dem Rasen Respekt, wenn 22 Stars und deren Ego um
Sie herumstehen?

Brych: Diese Gratwanderung zwischen Kontrolle und Freiraum ist die große Kunst. Ab dem Champions-League-Viertelfinale hast du 22 Megastars. Das Niveau ist extrem und den Stars gehört die Bühne. Anfangs war ich überstreng, lebte das mit meiner Mimik und Körpersprache. Bei meiner letzten EM habe ich kaum noch Karten gebraucht.

Sie haben einmal gesagt, vor einem Spiel fühlen Sie nur Belastung. Wie gehen Sie persönlich mit diesem enormen Leistungsdruck um?

Brych: Die Belastung war extrem, auch fürs Privatleben. Weil ich am Montag das Spiel vom Mittwoch im Kopf hatte. Das hat mich zwei Tage lang gestresst, zugleich aber dazu geführt, dass ich im Spiel extrem fokussiert war. Ich habe mit Yoga angefangen, habe mentales Training gemacht und mir das Spiel durch den Kopf gehen lassen. Wie ein Formel-1-Pilot, der die Strecke und Kurven durchgeht. Ich habe viel investiert, habe diese Energie aber wieder zurückbekommen.

Ist der Druck durch den Video Assistant Referee (VAR) weniger geworden?

Brych: Der Druck ist punktuell weniger, weil ich eine Einzelentscheidung korrigieren kann. Insgesamt ist der Druck aber gleichgeblieben, weil du als Schiedsrichter mit technischen Hilfsmitteln keine Fehlertoleranz mehr hast. Abseits war immer ein schwieriges Thema, das wird sich im nächsten Jahr mit der Einführung der halb automatischen Abseitstechnologie weitgehend erledigen.

Mancher Kritiker fordert, den VAR wieder abzuschaffen.

Brych: Die Kritiker werden immer weniger. Der VAR gehört zum Profifußball wie der Ball und das Tor. Anfangs war das eine Operation am offenen Herzen. Es war mutig, das in der Bundesliga direkt zu testen, da haben wir einige Federn gelassen. Jetzt würde ich ohne VAR nicht mehr pfeifen.

Gab es trotz des Drucks Spiele, die Sie genießen konnten?

Brych: Die Spiele kann ich nicht genießen. Genuss kam danach, mit dem Erfolg während der Zeitreise. Der Genuss war, dass ich die ganze Welt kennenlernen durfte, dass ich viele spannende Menschen kennengelernt habe, dass ich Teil des großen Fußballs war. Irgendwann habe ich diesen Druck aber gerne gespürt. Das war ein Privileg und ein bisschen eine kleine Sucht.

2005, in Ihrer Bundesliga-Debütsaison, hat der Manipulationsskandal um Robert Hoyzer den deutschen Fußball erschüttert. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Brych: Das war ein brutaler Schlag und keine schöne Zeit. Der Nimbus wurde zerstört. Wir standen als junge Generation unter Generalverdacht. In der Bild-Zeitung waren unsere Konterfeis mit der Schlagzeile: Wer ist der nächste Betrüger? Ich war damals als Mensch gar nicht darauf vorbereitet und habe mich privat ziemlich abgeschottet.

Die WM 2018 sollte Ihr Karrierehöhepunkt werden. Doch nach dem Spiel Schweiz gegen Serbien wünschte Sie der serbische Trainer Krstajic vor das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag und sie wurden für kein Spiel mehr nominiert.

Brych: Ich habe während meiner Karriere mein Potenzial ausgeschöpft, nur bei dieser WM nicht. Das war die große Chance, die ich ungenutzt ließ. Vielleicht hätte ich nach diesem Turnier auf internationaler Ebene aufgehört, wenn es geklappt hätte. Dann hätte ich aber nicht so viele Rekorde geholt.

In Ihrem 344. Bundesligaspiel, als Sie die Bestmarke von Wolfgang Stark eingestellt haben, rissen Sie sich das Kreuzband. Was hat Sie angetrieben, nochmals auf den Platz zurückzukehren?

Brych: Ich wollte nicht, dass das Schicksal meine Karriere beendet. Ich wollte mich als fitter Sportler verabschieden und ein selbstbestimmtes Ende haben. Nach der WM oder dem Phantom-Tor hatte ich mentale Comebacks, nach dem Kreuzbandriss ein körperliches.

Sie beenden Ihre Karriere am kommenden Wochenende mit dem Spiel zwischen dem FC Augsburg und Union Berlin. Was wünschen Sie sich dafür?

Brych: Ich wünsche mir, dass viele Freunde und meine Familie im Stadion sind, ich keine Schmerzen habe und mich mit einer guten Leistung stil- und würdevoll verabschieden kann.

INTERVIEW: JOHANNES GRAF

Zur Person

Felix Brych, geboren in München, wurde zweimal zum Weltschiedsrichter (2017, 2021) gekürt. Der 49-Jährige nahm an Olympischen Spielen, Welt und Europameisterschaften teil. 2021 beendete er seine internationale Karriere, nach über 830 Profispielen wird er nun auch seine nationale Laufbahn beenden. Der promovierte Jurist ist verheiratet und hat Kinder, hauptberuflich arbeitet er beim Bayerischen Fußball-Verband.