Die deutsche Wirtschaft ist erfolgsverwöhnt. In den letzten Jahren wuchs die volkswirtschaftliche Leistung jährlich im Durchschnitt um solide zwei Prozent. Doch nun ziehen erstmals dunkle Wolken am Himmel der Bundesrepublik auf. So hat sich das Wirtschaftswachstum im vergangenen Jahr deutlich abgekühlt. Im letzten Quartal 2018 wuchs die Wirtschaft schließlich gar nicht mehr. Das Bundeswirtschaftsministerium erklärte, die Konjunktur sei durch „erschwerte außenwirtschaftliche Rahmenbedingungen und binnenwirtschaftliche Sondereffekte“ gedämpft worden.

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Auch für das laufende Jahr werden die Bundesregierung und führende Wirtschaftsforschungsinstitute immer pessimistischer. Die Bundesregierung erwartet für 2019 nur noch eine Zunahme des Bruttoinlandsprodukts von 1,0 Prozent. In ihrer Herbstprognose war sie noch von einem Plus von 1,8 Prozent ausgegangen. Auch das Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) geht davon aus, dass die Konjunktur in Deutschland langsam das Ende der Fahnenstange erreiche. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag korrigierte seine Wachstumsprognose ebenfalls nach unten. Der Verband rechnet für dieses Jahr nur noch mit einem Wirtschaftswachstum von 0,9 Prozent, nach zuvor 1,7 Prozent. Das Ifo-Geschäftsklima, eine Art Stimmungsbarometer der Wirtschaft, fiel zuletzt auf einen Tiefstand.

Warum das Wachstum an Grenzen stößt, darüber haben wir mit zwei der profiliertesten Ökonomen Deutschlands gesprochen: Hans-Werner Sinn leitete bis vor drei Jahren das Münchener Ifo-Institut; Ulrich Kater ist Chefvolkswirt der Deka-Bank, dem Wertpapierhaus der deutschen Sparkassen-Finanzgruppe. Ihre Einschätzung zu den Chancen (grüner Pfeil) und Risiken (roter Pfeil) unserer Wirtschaft haben wir für Sie zusammengefasst. Der gelbe Pfeil symbolisiert, dass sich Chancen und Risiken in der Waage halten.

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Der Brexit ist ein harter Schlag: Den bevorstehenden Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union (EU) hält Hans-Werner Sinn für einen großen Fehler. „Großbritannien will an die guten alten Zeiten des glorreichen und eigenständigen Königreichs anknüpfen. Aber das ist eine verzerrte Romantik. Die Hälfte der Exporte von Großbritannien gehen in die EU. Insofern tun sich die Briten mit dem EU-Austritt keinen Gefallen.“ Und auch aus einem anderen Grund sei der Brexit fatal. So hätten die Briten der EU immer einen marktwirtschaftlichen Stempel aufgedrückt. Mit dem Austritt der Briten werde die marktwirtschaftliche Stimme in der EU leiser. Etwas optimistischer blickt Ulrich Kater in die Zukunft. „Auch ein harter Brexit wäre verkraftbar. Großbritannien trägt gerade einmal zwei Prozent zur Weltwirtschaftsleistung bei“, sagt er. Die deutschen Firmen würden sich nach einer gewissen Zeit neu orientieren. Großbritannien will die EU am 29. März verlassen. Noch ist aber völlig unklar, wie Premierministerin Theresa May für das Austrittsabkommen im Parlament eine Mehrheit finden will.

Der Protektionismus bleibt eine Belastung: Sowohl Kater als auch Sinn halten den Handelsstreit mit den USA noch nicht für ausgestanden. Hohe Importzölle auf deutsche Autos seien weiterhin möglich. Auch deshalb sei es laut Sinn gefährlich, wenn sich Deutschland zu sehr auf seine Exportstärke konzentriere. „Angesichts des Brexits und des amerikanischen Protektionismus sind wir Deutschen gezwungen, unser Exportmodell zu hinterfragen“, sagt er.

 

Die Konjunktur wird sich abschwächen: Nach Einschätzung von Kater sei Deutschland in den letzten Jahren vom Erfolg verwöhnt worden. „Wir haben nach der Finanzkrise einen der längsten Aufschwünge der deutschen Wirtschaftsgeschichte erlebt. In den nächsten Jahren wird es nach diesen fetten Jahren etwas magerer werden, aber das heißt nicht, dass wir hungern werden.“ Die Binnennachfrage in Deutschland sei sehr stabil, aber die Weltwirtschaft habe sich – auch wegen des Handelsstreits und des Brexits – abgekühlt. Ähnlich schätzt Sinn die konjunkturelle Lage ein. „Sowohl die Weltkonjunktur, als auch die europäische und deutsche Konjunktur verlieren an Schwung“, sagt er. Allerdings gibt Sinn auch zu bedenken, dass es kein Naturgesetz gebe, dass eine Wirtschaft immer wachsen müsse. Aber eine Wirtschaft, die wachse, löse ihre Verteilungsprobleme leichter.

Der Fachkräftemangel bremst das Wachstum: Ein großes Wachstumshindernis ist laut Kater der Fachkräftemangel. „Wir müssen ihm durch eine gute Ausbildung unserer Bevölkerung entgegen wirken“, fordert er. In manchen Branchen ließen sich auch fehlende Arbeitskräfte aufgrund des technologischen Fortschritts durch kluge Maschinen ersetzen, glaubt Kater.

Die Zinsen bleiben niedrig: Kapitalmarktexperte Kater erwartet in naher Zukunft keine Zinswende. „Beim Sparbuch sind die Aussichten auf steigende Zinsen weiter sehr düster. Auch in den kommenden Jahren werden die Zinsen weiter unterhalb der Inflation liegen“, glaubt er. Langfristig führe kein Weg an Aktien vorbei, wenn man sein Kapital vermehren wolle. „Im Durchschnitt rechnen wir in den nächsten Jahren mit einer Aktienrendite von fünf bis sechs Prozent“, sagt Kater. Allerdings sollte man bei der Aktienanlage einen Zeithorizont von mindestens fünf, besser zehn Jahren haben.

Das Rentensystem ist in einer Schieflage: Beide Ökonomen machen sich große Sorgen um die Rente. „Es gibt angesichts des demografischen Wandels keine Wunder-Fee, die hohe Zinsen und Renditen herbeizaubern kann“, sagt Kater. In Erwartung eines sinkenden Rentenniveaus werde private Vorsorge immer wichtiger. Sinn plädiert für eine grundlegende Reform unseres Rentensystems. „Um unser Rentensystem zu reparieren, müssen wir länger arbeiten und brauchen mehr qualifizierte Einwanderung“, sagt er.

Der Aktienmarkt bietet Chancen: Anleger sollten sich laut Kater nicht vom starken Kursrückgang im vergangenen Jahr entmutigen lassen. „Rückgänge am Aktienmarkt sind auch immer Chancen, um zu günstigen Preisen einzusteigen“, sagt Kater. Er empfehle Anlegern, nicht den ganzen Anlagebetrag auf einmal zu investieren, sondern den Anlagebetrag zu stückeln. Denn so könne man das Risiko am Aktienmarkt ausbalancieren.

Der Technologiesektor bleibt attraktiv: Potenzial sieht Kater neben den Schwellenländern auch in Technologieaktien – trotz des Börsenabsturzes von Facebook, Apple, Amazon und Google im vergangenen Herbst. „Technologieaktien sind sehr ambitioniert bewertet. Es stecken viele Erwartungen drin, die nicht von allen Unternehmen erfüllt werden können“, sagt Kater. Trotzdem blieben Technologieaktien in der Breite und langfristig ein gutes Investment. So habe sich der TecDax, in dem die 30 größten deutschen Technologiewerte gelistet sind, in den letzten Jahren prächtig entwickelt. Grundsätzlich eigneten sich Aktien auch zur Altersvorsorge, so Kater. Denn keine andere Anlageklasse verspreche langfristig ähnlich hohe Renditen.

Die Löhne werden steigen: In den kommenden Jahren rechnet Kater mit steigenden Reallöhnen. „Vor allem im Dienstleistungssektor besteht Nachholbedarf, weil die Gewerkschaften in diesem Bereich noch nicht so stark sind wie in der Industrie“, sagt er. Dies sei auch wichtig, denn der Dienstleistungssektor werde im digitalen Zeitalter weiter wachsen. „In Deutschland geht der Anteil der Industrie an der Wirtschaftsleistung und der Beschäftigung weiter zurück. Das liegt vor allem am technologischen Wandel und der Automatisierung“, erklärt Kater. Viele Jobs seien neu, sodass sich die Gehälter erstmal einpendeln müssten. Schließlich habe es in der Industrie auch lange gedauert, bis die Beschäftigten so hohe Löhne wie heute verdienen konnten.

Die Mieten stabilisieren sich: In den letzten Jahren kannten die Mieten und Häuserpreise, auch befeuert durch die niedrigen Zinsen nur eine Richtung – nach oben. Vor allem in Ballungszentren wie München, Stuttgart oder Frankfurt und in Studentenstädten wie Konstanz stiegen die Mieten deutlich stärker als die Kaufkraft der Einwohner. Doch dieser Trend wird sich laut Kater abflauen. „Der starke Anstieg der Immobilienpreise ist durch. Die Zinsen für die Immobilienfinanzierung werden nicht mehr weiter sinken und die Bautätigkeit ist so hoch wie nie“, sagt er. Er rechne mit nur noch leicht steigenden Mieten und einer Stabilisierung der Hauspreise, auch in den Ballungsräumen, so Kater.

Europa fällt zurück: In vielen Feldern – zum Beispiel bei der künstlichen Intelligenz, bei der Elektromobilität oder beim autonomen Fahren – kann Europa technologisch nicht mit Asien und den USA mithalten. Sinn hält das nicht für einen Zufall. „Europa fehlt die Dynamik, weil wir zu wenig junge Menschen haben. Und Innovationen kommen nunmal von jungen Menschen“, sagt er. „Deshalb drohen wir, zum Beispiel bei der Digitalisierung gegenüber Asien zurückzufallen“, so Sinn weiter.

Der Euro muss reformiert werden: Für Sinn bleibt der Euro weiterhin ein Sorgenkind. Er hält eine grundlegende Reform des Eurosystems für nötig. „Ich plädiere für einen atmenden Euroraum. Ein Land, das Probleme hat, sollte austreten und später wieder nach einer Abwertung der eigenen Währung eintreten dürfen“, fordert Sinn. So hätte Griechenland auf dem Höhepunkt der Krise zur Drachme zurückkehren sollen. Neben Griechenland sei derzeit Italien der größte Wackelkandidat der Eurozone.

Hartz IV ist ein Erfolgsmodell: Das derzeitige Sozialsystem Deutschlands hält Sinn für ausgereift. „Das Hartz-IV-System ist ein gutes System, weil es ein Existenzminium garantiert und außerdem Anreize setzt, zu arbeiten. Man sollte dieses System nicht in Frage stellen.“ Es werde immer Strukturwandel geben, unter dem einzelne Menschen leiden. Doch diese Menschen würden durch das soziale Sicherungsnetz aufgefangen. „Die Stärke des deutschen Sozialstaates ist es, dass die Verlierer des Strukturwandels automatisch kompensiert werden“, so Sinn. Die Kritik am deutschen Niedriglohnsektor hält er für unberechtigt. „Eine Beschäftigung zu einem niedrigen Lohn ist besser, als keine Beschäftigung zu haben“, sagt er.

  • Fazit: Das Wachstum in Deutschland verliert an Fahrt. Auch wenn uns in naher Zukunft keine Wirtschaftskrise droht, müssen wir uns auf eine abflauende Konjunktur einstellen. Das ist kein Grund zur Beunruhigung, vielmehr gehört das Auf-und-Ab in der Wirtschaft zum Normalmodus. Doch langfristig warten auf uns große Herausforderungen: Der demografische Wandel, die Digitalisierung und die technologischen Veränderungen in vielen Branchen zwingen uns zum Umdenken und zu mutigen Reformen.