„Ich hätte gerne noch ein paar Jahre weitergemacht, ich bin erst 59.“ Arne Thelen sitzt in seinem Büro und die Niedergeschlagenheit ist ihm anzumerken. Seit 1982 ist er bei der Tuttlinger Firma Karl Bollmann beschäftigt. Er hat dort die Lehre gemacht, dann den Meister drangehängt und parallel studiert. Irgendwann wurde er Geschäftsführer und Gesellschafter des deutschen Marktführers für Arzttaschen. Und jetzt ist Schluss.

Arne Thelen ist geschäftsführender Gesellschafter der Firma Karl Bollmann aus Tuttlingen. Das Unternehmen wird aktuell aufgelöst. Die ...
Arne Thelen ist geschäftsführender Gesellschafter der Firma Karl Bollmann aus Tuttlingen. Das Unternehmen wird aktuell aufgelöst. Die Taschen- und Kofferproduktion beendet. Einen Käufer für das mehr als 130 Jahre alte Unternehmen gibt es nicht. | Bild: KB

Seit Anfang Januar befindet sich die Tuttlinger Manufaktur für Arztausstattung im Liquidationsverfahren. Anders ausgedrückt zieht sich das Unternehmen aus freien Stücken und auf Beschluss der Gesellschafter aus dem Geschäft zurück. Wobei von Freiwilligkeit bei dem 1892 gegründeten Traditionsbetrieb eigentlich nicht die Rede sein kann. „Es ging einfach nicht mehr“, sagt Thelen. „Wir haben uns sehr, sehr lange nur noch gequält.“

Großgeworden durch die Weltkriege

Mit zwei verbliebenen Mitarbeitern wickelt Thelen jetzt die Formalia ab. Kümmert sich um die Auflösung der Gesellschaft, deren Löschung aus dem Handelsregister und organisiert den Lagerabverkauf. Den verbliebenen 18 Mitarbeitern sei mit einem Jahr Vorlauf zum Jahreswechsel 2023/24 gekündigt worden, sagt er.

Früher, in der guten alten Zeit, waren einmal mehr als 30 Menschen bei dem Unternehmen beschäftigt. Geht man viele Jahrzehnte zurück waren es sogar noch mehr. Im Windschatten der boomenden Foto-Industrie gründete sich die Manufaktur Ende des 19. Jahrhunderts und lieferte vor allem Leder-Applikationen für Kamerahersteller. Durch die beiden Weltkriege und den damit verbundenen steigenden Bedarf an Sanitäts-Ausstattung eröffnete sich ein neues Geschäftsfeld. „Sanitätstragen aus Stoff und Leder, Medikamenten-Etuis und eben Arzttaschen“, sagt Thelen.

Vor allem Letztere wurden nach dem Krieg weiterentwickelt und gelangten in der jungen Bundesrepublik bald zu großem Ansehen. Irgendwann gehörten die Taschen Made in Tuttlingen zur Standardausstattung deutscher Allgemeinmediziner bei Patientenbesuchen.

Spätestens Mitte des Jahres ist Schluss

Das alles wird in wenigen Monaten der Vergangenheit angehören. Wenn die Läger geräumt und die restlichen Bestände beim Handel vergriffen sind, ist die Firma Karl Bollmann auch für die Endkunden in den weißen Kitteln Geschichte.

Kompakt, aber es geht viel hinein: Bollmann-Arztkoffer aus Tuttlingen
Kompakt, aber es geht viel hinein: Bollmann-Arztkoffer aus Tuttlingen | Bild: KB

Lieferketten in Deutschland zerrissen

Im Niedergang der Firma lassen sich einige Schwächen des deutschen Standorts wie unter einem Arzt-Binokular betrachten. Die stark auf Leder und filigrane Metallteile für Verschlüsse beruhende Taschen- und Kofferfertigung war früher in Deutschland gängig. An vielen Stellen gab es Betriebe und Zulieferfirmen. Nabel der Branche war neben Bayern, Hessen und Baden-Württemberg das rheinland-pfälzische Städtchen Pirmasens, wo sich um hunderte Schuhersteller herum ein bunter Strauß an lederverarbeitenden Betrieben gebildet hatte. Ab den 1970er Jahren begann der Niedergang, der noch im alten Jahrtausend zur Insolvenz fast aller namhafter Hersteller führte.

Der Trend, der Pirmasens, seinen einstigen Reichtum kostete, war überall gleich: Die Produktion von Lederwaren und Kleidungstücken wurde ins Ausland verlagert, heimische Hersteller wurden aufgekauft oder dichtgemacht. Auch die Insolvenz der Taschen-Kultmarke Bree Anfang des Jahres lässt sich in diese Entwicklung einreihen. Prominentester Leidtragender ist übrigens Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), bekennender Besitzer einer schwer in die Jahre gekommenen Bree-Aktentasche.

Karl-Bollmann-Geschäftsführer Thelen sagt, der Rückgang der Hausbesuche von Ärzten mache sich in seinem Markt seit Jahren bemerkbar. Laut der Deutschen Stiftung Patientenschutz sanken die Arzt-Patientenbesuche bundesweit im Vergleich zu vor zehn Jahren um mehr als ein Viertel. Weniger Hausbesuche, bedeutet aber auch: weniger neue Taschen.

Import von Vorprodukten extrem verteuert

Wichtiger aber noch ist, dass von dem einstigen engen Geflecht an Zulieferern für lederverarbeitende Handwerksbetriebe heute in Deutschland fast nichts mehr übrig ist. Vielmehr sei man von ausländischen Firmen, meist aus Asien, abhängig, sagt Thelen. Das sei in den vergangenen Jahren zu einem existenzbedrohenden Problem geworden. Zum Höhepunkt der Corona-Krise hätten sich die Frachtraten für Standardcontainer aus Fernost „mehr als verzehnfacht“. Bis heute seien sie nicht wieder auf dem alten Niveau angelangt.

Arzttaschen von Karl Bollmann aus Tuttlingen des Modells Conzertina waren lange Teil der Standardausstattung von Ärzten.
Arzttaschen von Karl Bollmann aus Tuttlingen des Modells Conzertina waren lange Teil der Standardausstattung von Ärzten. | Bild: KB

Die Großfirmen aus Übersee indes geben nicht viel auf die kleinen Nischen-Produzenten aus Süddeutschland. „Bei unseren kleinen Produktionsmengen haben die uns teils gar nicht mehr beliefert“, sagt er. Und wenn doch, habe es lange gedauert und die Preise seien enorm hoch gewesen. „In kleinen Stückzahlen am Standort Deutschland zu produzieren, ist seit drei bis vier Jahren nahezu unmöglich geworden“, sagt der Firmenchef. Rund 5000 Arzttaschen, dazu noch Etuis und Leder-Mappen nähten die Karl-Bollmann-Kürschner zuletzt pro Jahr zusammen.

Verband Medical Mountains: „Die Schmerzen der Kleinfirmen sind deutlich spürbar“

Meinrad Kempf, Sprecher des Medizintechnikverbands Medical Mountains in Tuttlingen, sieht kleine Nischenhersteller vor Problemen. Die Bürokratie erschlage die Firmen, sagt er. Neue Zertifizierungsregelungen (MDR) führten zu hohen Kosten, die Kleinserien unrentabel werden ließen. Noch sei der industrielle Kern im Weltzentrum der Medizintechnik um Tuttlingen intakt, sagt Kempf. Aber die Schmerzen der Unternehmen seien „deutlich spürbar“.

Und Karl Bollmann? Hätte die Wiedergeburt des Hausarztmythos, die in Form der ZDF-Serie „Der Bergdoktor“ seit Jahren jede Woche über die Leinwände flimmert, das Unternehmen nicht doch noch retten können? Leider gibt es auch dafür keine Hoffnung. Der alpenländische Wunderheiler, alias Hans Sigl, trägt eine Arzt-Tasche des einzig verbliebenen Bollmann-Konkurrenten durch die österreichischen Berge: ein eher einfaches Stück der niedersächsischen Firma Dürasol.

 

Anmerkung der Redaktion: In einer ersten Version dieses Textes haben wir fälschlicherweise getitelt, die Firma sei pleite. Dies ist nicht der Fall. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.