Wilfried Rupp steht im Gras und blickt auf seine große Liebe. Sie ist ziemlich weitläufig, ziemlich pflegeintensiv und finanziell ein ziemliches Desaster. Sie ist aber auch recht exquisit. Auf ihr haben sich eine Pariser Gräfin ebenso breit gemacht wie eine gewisse Goldrenette von Blenheim und die Köstliche aus Charneux. Und ganz hinten im Eck steht Kaiser Wilhelm. Rupp schmunzelt, als er die Namen aufzählt. „Das sind keine Menschen“, sagt er. „Das sind alte Obstsorten, die man irgendwann mal so genannt hat.“

Vor gut fünf Jahren hat Rentner Rupp in die Salemer Erde unweit des Bodensees eine 7000 Quadratmeter große Obstwiese gepflanzt, die irgendwann einmal so sein soll, wie er sie aus seiner Jugend kennt: Knorrig, naturbelassen und für jeden da, der sich nach einem Apfel oder eine Birne bücken will. Dafür schuftet er fast jeden Tag. Gräbt Löcher, setzt Pfähle, schneidet Äste und mäht Gras. Bienen und Insekten baut er Unterschlupfmöglichkeiten und mit den Bauern, streitet er sich gelegentlich, wenn deren Gülle mal wieder auf sein Obst-Biotop schwappt.
80 Prozent der Obstwiesen weg
Rupp, der sich selbst als „Umweltfreak“ bezeichnet und jahrelang für eine freie Liste Umweltpolitik in seiner Heimatgemeinde Baitenhausen nahe Salem gemacht hat, steht mit seiner Liebe zu Apfel, Birne, Baum und Borke indes ziemlich alleine da. Überall in Deutschland sterben die Streuobstwiesen. Die wohl tradititionsreichste Form des Obstanbaus im Land ist flächendeckend auf dem Rückzug. „Wo man auch hinschaut, alles verfällt“, sagt Rupp. „Da will ich mit meiner Obstwiese dagegenhalten.“
Der Kampf des 73-Jährigen mutet aussichtslos an. In den vergangenen Jahrzehnten sind Schätzungen zufolge rund 80 Prozent aller deutschen Streuobstwiesen verschwunden. Sie wurden abgeholzt, in klassisches Agrarland umgewandelt oder schlicht ihrem Schicksal überlassen.
Hobby-Obstbauer Rupp schätzt, dass in manchen Regionen gerade einmal noch zehn Prozent der verbliebenen Bestände aktiv bewirtschaftet sind. Auf dem Rest wird weder geerntet oder entastet. Die Folge sind verfilzende Wiesen und strebende Bäume, die manchem Landstrich einen fast schon morbiden Charme verleihen.
Baden-Württemberg ist Europameister bei Streuobstwiesen – noch
Baden-Württemberg trifft diese Entwicklung besonders hart, denn der Südwesten ist nach wie vor der unbestrittene Champion in der Disziplin Streuobstwiese. Zwischen Wertheim und Konstanz ist die Landwirtschaft vergleichsweise kleinteilig strukturiert. Die historische Realteilung hat die Arrondierung großer Agrarflächen erschwert und das wiederum gibt bis heute Raum für extensiv genutzte Parzellen. Diese werden oft von privaten „Stückles-Besitzern“ bewirtschaftet, die schon längst keine Bauern mehr sind, sondern ihre Obstwiesen aus alter Verbundenheit zum Erbe der Vorfahren pflegen.
Noch gebe es in Baden-Württemberg mit etwa 89.000 Hektar die bedeutendsten zusammenhängenden Streuobstwiesen-Bestände Mitteleuropas, heißt es aus dem Stuttgarter Landwirtschaftsministerium. Schätzungen die die Definition etwas weiter fassen kommen sogar auf bis zu 120.000 Hektar mit Obst-Hochstämmen bepflanzte Flächen.

Das gesamte Gebiet nördlich von Stuttgart bis ins Hohenlohische Land hinein, die Region um Pforzheim bis nach Karlsruhe sowie der nördliche Teil der Schwäbischen Alb gelten als Streuobst-Land. Auch im Oberschwäbischen und im Bodenseeraum, der als größtes Obstanbaugebiet Deutschlands gilt, haben sich neben dem ausgedehnten Spalierobst-Bau größere Flächen erhalten, auf denen Apfel, Birne, Kirsche und Zwetschge wie nach dem Krieg geerntet werden.
Äpfel am Bodensee, Kirschen und Zwetschgen im Badischen, Mostobst um Stuttgart und Pforzheim
Aber auch im Südwesten ist der Schwund erschreckend. Standen nach Daten der Landesregierung um 1965 noch etwa 18 Millionen Streuobstbäume innerhalb der Landesgrenzen, waren es 2020 noch gut sieben Millionen. Ein Rückgang um gut 60 Prozent, der wahrscheinlich noch zu tief gegriffen ist, weil die Daten in den vergangenen fünf Jahren nicht mehr erfasst wurden.

Die Lage sei „wirklich sehr besorgniserregend“, sagt Martin Hahn, Grüner Landtagsabgeordneter im Bodenseekreis und in seinem Leben vor der Politik selbst aktiv Biobauer. Die Bedeutung der Streuobstwiese und der auf ihr stehenden Hochstämme für „Biodiversität und Landschaftsbild“ seien enorm.
Bio-Plantagen und Saftobstgärten als Konkurrenz
Dass die Streuobstwiesen aussterben, hat viel mit generellen Trends Agro-Geschäft zu tun. Als extensiv bewirtschaftete Flächen mit saisonal stark schwankenden Erträgen passen sie immer weniger in die industrialisierte Landwirtschaft. Deren prägendstes Merkmal im Obstbau ist die Hochleistungsplantage. Und sie ist seit Jahren auf dem Vormarsch.
Seit langem wird die Produktion in entsprechende Obst-Monokulturen verlagert. Die großen, makellosen Äpfel, die in den Auslagen der Supermärkte liegen, liefern heute fast ausschließlich dicht gedrängt stehende Spalierbäume, deren Früchte durch Hagelnetze und reichlich Pestizide geschützt sind.
Auf den Plantagen wird gespritzt, die Artenvielfalt ist gering
Allein im Südwesten stiegen diese Anbauflächen seit 2010 um etwa ein Fünftel. Gleichzeitig konzentrierten sich die Parzellen nach Daten des bundeseigenen Thünen-Agrarforschungsinstituts auf immer weniger Betriebe. Die deutschen Obstbauern – allein im Bodenseekreis werden 16 Prozent aller deutschen Äpfel produziert – konkurrieren in diesem Markt mit anderen Groß-Anbaugebieten wie Südtirol, Frankreich oder Polen.

Die Streuobstwiesen bleiben in dem Milliardenmarkt links liegen. Ihr Obst wird höchstens in Bio-Läden vermarktet. Traditionell wird der Großteil im regionalen Maßstab zu Direktsaft verarbeitet oder zu Spezialitäten Apfelmost oder Obstbränden weiterveredelt. Besonders die Nische hochwertiger Direktsäfte sicherte den Erzeugern bislang Absatzmöglichkeiten und auskömmliche Preise.
Die Preisaufschläge, die die Verbraucher für regionale Säfte bereit waren zu zahlen, wurden von den Keltereien an die Kleinerzeuger durchgereicht. Mit langfristigen Lieferverträgen versehen lohnte sich für sie der hohe Aufwand für die Knochenarbeit in den Streuobstwiesen.
Saftindustrie lässt Erzeuger fallen
Im Bio-Segment gab es zuletzt sogar einen kleinen Boom. Vor allem in den vergangenen fünf Jahren habe eine regelrechte Flucht ins Bio-Segment stattgefunden, sagt Markus Rösler, der seit fast 30 Jahren Sprecher des NABU-Bundesfachausschusses für Streuobst ist.
Kein Wunder: In Jahren mit hohen Ernten bekamen Streuobstwiesenbesitzer für 100 Kilogramm konventionelles Obst von den Kelterbetrieben teilweise nicht einmal sieben Euro. Für Bio-zertifizierte Äpfel hingegen wurden deutlich höhere Festpreise von etwa 20 Euro gezahlt und über Jahre garantiert.
Aber auch damit ist es vorbei. Ende 2020 kündigten zwei Großkeltereien vom Bodensee, die Unternehmen Dreher und Widemann, denen Fachleute eine marktbeherrschende Stellung im Top-Segment der Direktsäfte nachsagen, mehrere Tausend Bioobst-Verträge und boten ihren Klein-Lieferanten Neuverträge zu deutlich schlechteren Konditionen an.
Rund zwei Drittel aller Bio-Streuobstwiesenbesitzer im Südwesten standen damit vor einer ungewissen Zukunft. Auch im schwäbischen Landes-Teil und in Bayern zogen Keltereien nach. Begründet wurde der Schritt immer durch stagnierenden Absatz bei Bio-Apfelsaft sowie eine steigende Bio-Produktion im EU-Ausland, die zu sinkenden Preisen führe.
Putins Embargo und die Obstschwemme in Westeuropa
In Folge der EU-Sanktionen gegen Russland nach der Annexion der Krim drängt seit einigen Jahren vor allem Obst aus Polen nach Westeuropa. Zuvor ging jeder Dritte polnische Apfel nach Russland, dann reagierte das Land mit einem Lebensmittel-Embargo für die EU. Branchengrößen wie die Kelterei Dreher vom Bodensee sind dort mittlerweile mit eigenen Produktionswerken präsent und profitieren nach eigenen Angaben von der Nähe zu den „gewaltigen Obstanbaugebieten“.
Neue Anbauform Saftobstgarten – kein Spalier, kein Hochstamm
Die Konkurrenz der Streuobstwiesenbesitzer findet sich aber nicht nur im Billiglohn-Ausland, sondern auch direkt vor der eigenen Haustür. Maschinell bewirtschaftete Bio-Obstplantagen, sogenannte Saftobstgärten, sind in der Branche der letzte Schrei. Die Bäume stehen hier zwar nicht so dicht wie im Spalier-Stakatto, werden aber durch Schüttelmaschinen und Lesegeräte geerntet. Das Obst wandert wie bei der Streuobstwiese in die Saftproduktion. Regional ist diese Anbauvariante insbesondere am westlichen Bodensee auf dem Vormarsch. Die 2017 „stark ausgeweiteten Mostobstplantagen kämen in den kommenden Jahren in den Vollertrag“, heißt es von Hochstamm-Deutschland, einem gemeinnützigen Verein, der sich für den Erhalt der Streuobstwiesen einsetzt.

Dass die durchrationalisierten Plantagen-Light die klassische Streuobstwiesen-Bewirtschaftung weiter verdrängen, scheint nur eine Frage der Zeit. Und das, obwohl Fachleute insbesondere den Öko-Nutzen, der oft durch Bio-Label wie Demeter zertifizierten Mono-Kulturen, massiv anzweifeln.
Die Konkurrenz der Bio-Apfelplantagen sei ein „Desaster für die Streuobstwiesen“, sagte Nabu-Fachmann Rösler. In ihrer ökologischen Wirkung seien sie viel näher an konventionell bewirtschafteten Spalier-Plantagen als an einer gewöhnlichen Streuobstwiese. Was Biodiversität und Artenvielfalt angehe, sei ihr positiver Beitrag „nur gering“.
Wann kommt das nationale Streuobst-Label?
Welche Zukunft hat also die Streuobstwiese und was bleibt für all jene, die sich für das Markenzeichen Baden-Württembergs den Buckel krumm machen? Nabu-Experte Rösler, sieht den Bestand der Streuobst-Kulturen als „akut gefährdet“ an. „Wir benötigen dringend professionelle Initiativen für die Vermarktung von Hochstamm-Obst“, sagt er.
Beim Kauf einer Flasche Apfelsaft müsse dem Verbraucher sofort ins Auge stechen, dass er damit die heimische Kulturlandschaft unterstütze. Zwar gibt es allein in Baden-Württemberg rund 40 regionale Streuobst-Label. Die Produktkennzeichnungen verwirren den Kunden aber offenbar eher, als dass sie Orientierung bieten.
Kaum Förderung für den Hochstamm
Von der Durchschlagskraft der nationalen Bioland- oder Demeter-Label sind sie jedenfalls meilenweit entfernt. Immerhin arbeitet die Hochstamm-Deutschland-Initiative derzeit an einem nationalen Siegel für reine Streuobstprodukte, wie es von dem Verein heißt.

Obst-Fan Wilfried Rupp vom Bodensee indes hält jeden marktwirtschaftlichen Ansatz, die Streuobstwiesen zu retten, für zu kurz gegriffen. „Wir brauchen einen gesellschaftlichen Konsens, dass es uns etwas Wert sein muss, diese Biotope der Artenvielfalt zu erhalten“, sagt er. Milliarden Euro flössen jedes Jahr in die konventionelle Landwirtschaft. Die 2,50 Euro pro Baum und Jahr, die man beim Land für die Kultivierung von Streuobstwiesen beantragen könne, hätte er bislang nicht beansprucht. Das käme ihm irgendwie lächerlich vor.