Bis vor wenigen Tagen konnte man in der Schweiz bisweilen den Eindruck gewinnen, dass die Corona-Pandemie an dem Land vorüberzieht. Zwar stiegen dort ebenfalls die Neuinfektionen, aber wer nicht gerade in einem Bus oder in der Bahn saß, begegnete im Alltag praktisch keiner Schutzmaske. Epidemiologen freuten sich Anfang Oktober öffentlich darüber, dass man die zweite Welle abgewendet habe.
Auch der Bundesrat signalisierte nur selten Dringlichkeit und ließ ab Anfang Oktober sogar wieder Veranstaltungen mit mehr als 1000 Besuchern zu. Es war eine Öffnung auf Druck der Wirtschaft – und ein Wagnis mit ungewissem Ausgang.
Strengere Regeln des Bundesrates
Seit Sonntag aber heißt es: Volle Kraft zurück. Die siebenköpfige Regierung traf sich kurzerhand zu einer Sondersitzung, um nationale Maßnahmen gegen die weitere Ausbreitung des Virus zu beschließen. Zuvor hatten die Kantone weitgehend freie Hand über ihre jeweiligen Corona-Regeln.

Angesichts der explodierenden Zahl von Neuinfektionen ist damit jetzt Schluss, immerhin meldete das schweizerische Bundesamt für Gesundheit (BAG) am Freitag mehr als 3100 Neuinfektion an einem einzigen Tag.
Über das Wochenende kamen noch einmal 8705 bestätigte Infektionen hinzu. Strengere Regeln des Bundesrats sollen dem nun Einhalt gebieten, verbunden mit der Hoffnung, dass es noch nicht zu spät ist.
Woher kommen die vielen Neuinfektionen?
Für den massiven Anstieg der vergangenen Tage gibt es mehrere Gründe. Einer davon sind die weiterhin stattfindenden Veranstaltungen, wie ein Fall aus der Innerschweiz zeigt. In Schwyz fand dort Ende September ein Jodelfest in einer Mehrzweckhalle statt, mit mehr als 600 Besuchern an zwei Tagen. Erst danach wurde bekannt, dass in der Gesangsgruppe auch mehrere Corona-Infizierte waren, und sich das Virus so trotz Schutzmaßnahmen verbreiten konnte.
Dazu befinden sich Schulen und Universitäten längst wieder im Vollbetrieb, was weitere Risiken mit sich bringt. Laut BAG hat sich die überwiegende Mehrheit der Infizierten jedoch im familiären Umfeld angesteckt.
Welche neuen Maßnahmen gelten jetzt in der Schweiz?
Seit Montag, 19. Oktober, gilt erstmals eine landesweite Maskenpflicht in allen öffentlich zugänglichen Einrichtungen. Dazu gehören etwa Supermärkte, Bahnsteige, Ämter, Museen, Kirchen und Kinos. Zuvor gab es diese Pflicht nur im Bus- und Bahnverkehr.
Auch sind jetzt spontane Versammlungen von mehr als 15 Personen im öffentlichen Raum verboten und in Restaurants und Bars darf nur noch im Sitzen konsumiert werden. Einzelne Kantone wie Bern haben beispielsweise die Maskenpflicht bereits früher eigenständig ausgeweitet.
Wie ist die Situation im Vergleich zu Deutschland?
Nach den Kriterien, die für deutsche Landkreise gelten, wäre mittlerweile beinahe die gesamte Schweiz Risikogebiet. Die Anzahl der wöchentlichen Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner reichte vor dem Wochenende von 38 im Halbkanton Basel-Land bis 224 im Kanton Schwyz.

Neben Basel-Land waren lediglich die Kantone Solothurn und Schaffhausen ebenfalls unter dem für Deutschland maßgeblichen Grenzwert von 50 – mittlerweile dürfte dieser aber in allen Kantonen überschritten sein. Die Zahl der wöchentlichen Neuinfektionen auf Kantonsebene werden vom BAG aber erst jeweils donnerstags veröffentlicht. Entsprechend wird wohl auch das Robert-Koch-Institut demnächst weitere Gebiete in der Schweiz zu Risikogebieten erklären.
Welche Folgen haben die Neuinfektionen für die Schweiz?
Gravierende. Bereits am Wochenende meldeten die Krankenhäuser in den Kantonen Schwyz, Wallis und Zürich, dass sie bei der Versorgung von Corona-Patienten an ihre Grenzen geraten. Die Schweizerische Rettungsflugwacht Rega hat nun den Auftrag bekommen, Patienten auf die unterschiedlichen Krankenhäuser zu verteilen, um eine Überlastung zu verhindern. Weiterhin bleiben aber Großveranstaltungen mit mehr als 1000 Besuchern in den meisten Kantonen erlaubt, sofern ein entsprechendes Schutzkonzept vorhanden ist.
Was ist jetzt anders als im Frühling?
Zu Hochzeiten Ende März bewegten sich die Zahlen in der Schweiz im Bereich von rund 1000 Neuinfektionen pro Tag, inzwischen sind es mehr als dreimal so viele. Das liegt zwar auch daran, dass mehr getestet wird als im Frühjahr, jedoch ist der Anteil der positiven Testergebnisse ebenfalls sprunghaft angestiegen. Dieser bewegte sich zuvor im Bereich von zwei bis drei Prozent, ist jetzt aber auf fast 15 Prozent geschnellt und damit auf dem Niveau von Ende März – bei weiterhin stark steigender Tendenz.
Daraus lassen sich nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation WHO zwei gleichermaßen unheilvolle Schlüsse ziehen: Bei einer Positivitätsrate von über fünf Prozent geht die Organisation nämlich davon aus, dass entweder zu wenig getestet wird, oder die Infektionslage bereits außer Kontrolle geraten ist.