Das hat den Thurgauern gerade noch gefehlt. Ihr Heimatkanton weist eine der niedrigsten Corona-Impfquoten der Schweiz aus. Wasser auf die Mühlen jener Eidgenossen, die den Kanton schon zuvor eigenwillig fanden. Bieder sei er, lautet ein Klischee, tendenziell rückwärtsgewandt und störrisch seine Bewohner, landschaftlich ganz nett aber reichlich langweilig sei es dort. Selbst der Thurgauer Dialekt rangiert in Umfragen meist ganz hinten – zu spitz und hart klinge das Thurgauerdeutsch, kein Vergleich zum sanften Berndeutsch.
Mitten hinein in Vorwürfe über Impftrödler aus der Nordostschweiz wagt mit Hermann Hess nun auch noch einer der prominentesten Thurgauer Hand ans Kantonsheiligtum zu legen: den Apfel.

Nicht, dass er sie nicht mögen würde, aber zur Imagepflege hat der 69-Jährige Äpfel leid. Apfelkanton nennt sich der Thurgau selbst, der Tourismusverband wirbt mit 200 Sorten und 210.000 Hochstammbäumen.
Thurgauer Unternehmer will weg vom Apfelimage
Ein großer Fehler sei der Fokus auf eine Obstsorte, findet Hess und „die Ursache für die biedere Außenwahrnehmung, dafür, dass der Kanton und die Thurgauer gerne belächelt werden.“ Wenn man sich schon als landwirtschaftlich verkaufe, sagt Hess, „müsste man sich ja eher als Kuhkanton darstellen“. Der Thurgau sei mehr als Äpfel, könnte sich – um in der Bildsprache zu bleiben – auch Zug-, Kaffeemaschinen- oder Nähmaschinenkanton nennen. „Nicht die Landwirtschaft unterstützt die Gesellschaft, die Gesellschaft unterstützt mit Fördergeldern die Landwirtschaft und bekommt kaum Steuern“, sagt er.
Was wissen wir überhaupt über den Nachbarkanton?
Vernachlässigt, gar belächelt von der übrigen Schweiz? Aus deutscher Sicht fällt man vom Glauben ab bei derlei Zuschreibungen. Wenn beispielsweise in Konstanz über „die Schweizer“ gemeckert wird, sind doch eher die weit aus der Innerschweiz angereisten Einkaufstouristen gemeint als die direkten Nachbarn. Dabei wäre die Stadt im späten Mittelalter um ein Haar Thurgauer Hauptstadt geworden.
Andererseits: Was wissen wir hierzulande überhaupt über den Thurgau? Außer dass dort ehemalige (Günter Netzer), aktuelle (Sebastian Vettel) und gefallene (Jan Ullrich) deutsche Sportler leben oder zeitweise lebten?
Wenn Hess spricht, hören die Thurgauer in der Regel hin
Vielleicht eben dann doch auch nur, dass er reich an Äpfeln ist? Das würde Hermann Hess‘ These untermauern. Im Thurgau ist er nicht irgendwer, wenn er den Mund aufmacht, hört man in der Regel zu. Das mag daran liegen, dass er on 2015 bis 2017 als Nationalrat für die FDP den Kanton vertrat. Ganz sicher liegt es aber an seinem Vermögen. Hess ist einer der reichsten Thurgauer, die Handelszeitung „Bilanz“ taxiert sein Vermögen auf umgerechnet knapp 210 Millionen Euro.
Der 69-Jährige war früher Textilunternehmer, inzwischen investiert er in Immobilien. Hess lebt und arbeitet in Amriswil, zwischen Kreuzlingen und St. Gallen gelegen, seine Familie ist seit 1600 dort verwurzelt. Er sei „Thurgauer durch und durch“, sagt er. Schon deshalb möchte er sich nicht falsch verstanden wissen, als jemand, der den Kanton kleiner mache, als er ist.
„Es herrscht der Eindruck einer Durchgangstation“
Im Gegenteil verberge das Image als Apfelkanton „die Dynamik des suburbanen Kantons mit einem starken Gewerbe-, Industrie- und Dienstleistungssektor und erfolgreichen Hidden Champions.“ Ihn ärgert, dass man die geografische Lage nicht als Chance präsentiere, als Offenheit Richtung Zürich und St. Gallen einerseits und Konstanz andererseits. „Stattdessen herrscht der Eindruck, der Thurgau sei eine Pufferzone im Schweizer Nordosten, eine Durchgangsstation.“
Etwas sanfter klingt die Kritik am Apfelimage aus Andreas Netzles Mund. „Definitiv moderner und pfiffiger verkaufen als nur durch eine Frucht“, könnte sich der Thurgau aber auch nach Ansicht des früheren Kreuzlinger Stadtammanns verkaufen.

Zehn Jahre arbeitete er als Gegenstück zum deutschen Bürgermeister für die Nachbarstadt von Konstanz, ist außerdem im Thurgau aufgewachsen. Weil bei einer Bürgerbefragung die Thurgauer – angesprochen auf ihre angebliche Eigenwilligkeit – nur gelangweilt oder genervt abwinken, hilft er als Kenner seiner Leute zur Erklärung weiter.
Um zumindest hier nicht auf dem Apfelkanton-Image herumzureiten, soll Netzle den Vorwurf der störrischen Impftrödler einordnen. Den möchte er nicht als „Widerstand gegen Bern deuten und auf Ablehnung gegen Corona-Maßnahmen oder gar Corona-Leugnung zurückführen“.
„Das kann genauso gut etwas mit der ländlichen Struktur zu tun haben“, sagt der 62-Jährige. Tatsächlich lassen sich laut einer Studie der Forschungsstelle Sotomo weniger Menschen aus ländlichen Gebieten gegen Corona impfen als in Großstädten oder Ballungsräumen.
Thurgauer konservativer als Schweizer Durchschnitt
Die Studie ergab auch: Je beliebter die rechte Schweizerische Volkspartei (SVP), desto niedriger die Impfbereitschaft. Im Thurgau ist der Hang zur SVP besonders hoch, was sich in Kantonswahlen einerseits, aber auch in den Ergebnissen der Volksabstimmungen niederschlägt. Die Thurgauer stimmen eher konservativer als ihre Landsleute ab – in jüngerer Vergangenheit etwa bei der Ehe für alle oder beim Burkaverbot.
„Der Druck zum Impfen hat bisweilen den Gegendruck erhöht und die Empfindlichkeit gegenüber der eingeschränkten persönlichen Freiheit verstärkt“, sagt Jakob Stark (SVP), einer von zwei Thurgauer Ständeräten, der Vertretung der Kantone im Schweizer Parlament. Wer erkenne, dass er von einer Impfung persönlich profitiere und Ängste verliere, werde sich impfen lassen. Die jeweilige Entscheidung müsse respektiert werden, sagt Stark. „Leben und leben lassen und Unterschiede aushalten, das ist wichtig.“
Herrscht im Thurgau ein „bleiernes Klima“?
SVP-Politiker Stark beschreibt die Thurgauer als „heimatverbunden und weltoffen zugleich, initiativ und arbeitsam“, der Kanton sei ländlich, aber modern. Das klingt doch alles andere als hausbacken, störrisch und rückwärtsgewandt?
Der Journalist und Historiker Markus Schär beschied seinem Heimatkanton anderseits schon 2003 ein „bleiernes Klima“. Sein Buch zur 200-Jahr-Feier nannte er: „Kantonsführer für Fortgeschrittene“. Der Kanton leide, so fasst er zusammen, an einem „kläglichen Mangel an Selbstbewusstsein nach außen“. Was wiederum in Hermann Hess‘ Meinung untermauert, der Thurgau sei viel mehr und spannender, als er sich selbst verkaufe.
Untertanenmentalität ist historisch begründet
Die dem Thurgau zugeschriebene Untertanenmentalität hat historische Gründe. Hunderte Jahre wurde er von Vögten der Alten Eidgenossenschaft beherrscht, erst seit 1803 ist er ein eigenständiger Kanton. Selbst die Strategie für einen Thurgau im Jahr 2040 trägt das Festhalten am Bestehenden mit sich. Titel: „Thurgau entwickeln – Thurgau bleiben.“
Will man im Thurgau also doch lieber, dass alles so bleibt, wie es früher mal war? Stimmt etwas am Vorwurf der Biederkeit? Der ehemalige Kreuzlinger Stadtammann Andreas Netzle hält von solchen Klischeezuschreibungen nichts. „Der Thurgau heute ist nicht mehr so wie vor 50 Jahren, gerade die hohe Zuwanderung hat uns bereichert, verändert und die Einstellung beeinflusst“, sagt er.
Dabei hat er auch seine einstige Wirkungsstätte im Blick. Mehr als die Hälfte der Kreuzlinger hat einen ausländischen Pass, knapp 7000 Deutsche leben in der 25.000-Einwohner-Gemeinde.
Grenzlage beeinflusst die Mentalität
Netzle widerspricht nicht, dass die Grenzlage „in gewissem Maß“ die Mentalität beeinflusse. „Auch wenn es nur teilweise stimmt: Weil wir geografisch weit weg von der Hauptstadt Bern sind, fühlt sich der eine oder andere Thurgauer vernachlässigt und bei der Verteilung von Fördergeldern benachteiligt“, sagt der 62-Jährige.
Eine echte Kernstadt, das kommt wohl hinzu, hat der Thurgau nicht. Selbst der Regierungssitz ist zwischen der förmlichen Hauptstadt Frauenfeld und Weinfelden aufgeteilt – mit 25.000 beziehungsweise 11.000 Einwohnern kann von einem Zentrum kaum gesprochen werden.
Der Apfel – ein zeitloses und attraktives Symbol?
Ein fehlendes Selbstbewusstsein macht auch SVP-Ständerat Jakob Stark aus. Macht es aber bei denen aus, die sich vom Image des Apfelkantons lösen wollen. Mit Verweis auf den bekannten Technologie- und Unterhaltungsriesen nennt er den Apfel ein „zeitloses und attraktives Symbol“. Statt sich vom Obst als Kantons-Signet zu verabschieden, solle man es mit neuen Inhalten in einer modernen Welt füllen.
Um dem Kanton seinen Apfel zu nehmen, ist es ohnehin noch ein weiter Weg. Jedes Jahr vergeben Wirtschaft und Kantonsregierung einen Preis an herausragende Unternehmen. Er trägt den Apfel nicht nur im Titel, sondern wird mit einem angebissenen Exemplar als Trophäe begleitet. Hermann Hess stöhnt ausreichend hörbar auf.