Wer mehr über die Mafia in Deutschland erfahren will, kommt an einem Mann nicht vorbei: Sandro Mattioli, Journalist und Vorsitzender des Vereins Mafianeindanke. Er deckte auf, dass der Tod des 22-jährigen Umut K. in Hechingen hätte verhindert werden können. Staatsanwälte aus Stuttgart mussten nicht nur wegen dieser Recherche erklären, warum sie Hinweisen nicht nachgegangen sind. Nun hat der Deutsch-Italiener ein neues Buch geschrieben: „Germafia“ heißt es und wieder steckt mehr als eine Enthüllung darin.
Herr Mattioli, in „Germafia“ schreiben Sie von Verbindungen von verschiedenen Mafia-Clans zu Lidl, zum FC Bayern, zur Deutsche Bank etc. Im Schlusswort steht, dass Sie nicht wissen, was kommt, wenn das Buch veröffentlicht wird. Also: Wie viele Klagen sind jetzt schon eingegangen?
Tatsächlich kam keine Klage, obwohl ich zumindest damit gerechnet hatte, dass juristisch was passieren könnte. Aber sowohl von Seiten der Betroffenen, die ich beschreibe, als auch in den Medien blieb es bisher erstaunlich ruhig. Mich hat das vor allem wegen zwei Stellen im Buch gewundert.

Welche?
Ich schreibe, dass es gemeinsame Aktivitäten von Deutscher Bank und einem ‚Ndrangheta-Clan (die kalabrische Form der Mafia, d. Red.) gab. Zumindest legen das Akten über die Aktivitäten von mindestens einem Mitarbeiter nahe. Und ich schreibe auch, dass der FC Bayern einen mutmaßlichen Mafioso beschäftigt, der in engstem Kontakt mit Karl-Heinz Rummenigge steht.
Bei dem Mafioso in München soll es sich um Rummenigges Chauffeur handeln. Vor und nach Veröffentlichung des Buches gab es dazu keine Reaktion aus München?
Nein, gar nicht.
Wie erklären Sie sich das Schweigen?
Wir kennen den Streisand-Effekt (benannt nach der Schauspielerin Barbra Streisand, die Red.), der vereinfacht besagt: Wenn man gegen etwas vorgeht, wird die Sache größer, als sie zuvor war. Vielleicht hat es damit zu tun. Vielleicht ist es aber auch so: Ich habe mir natürlich größte Mühe gegeben, mein Buch so zu formulieren, dass es rechtlich nicht angreifbar und zugleich inhaltlich korrekt ist.
Seit Jahrzehnten recherchieren Sie schon über die Mafia. Dazu sind Sie auch Vorsitzender des Vereins Mafianeindanke. Warum eigentlich?
Es war nie mein Ziel, Mafia-Experte zu werden, weil ich als Journalist meine Nase lieber in viele verschiedene Welten reinstecken wollte. Das hat sich dann aber mit der ersten Beschäftigung mit dem Thema Mafia geändert. Ich habe damals in Rom und über kriminelle Abfallgeschäfte recherchiert. Darin sind immer wieder auch Mafiosi involviert. Über einen italienischen Kollegen erhielt ich dann Kontakt zum Boss eines wichtigen ‚Ndrangheta -Clans, der ausgestiegen ist. Und damit eröffnete sich eine ganz neue Perspektive.
Sie schreiben auch gleich im ersten Kapitel von dieser Begegnung.
Ja, die Geschichte beginnt ganz vorn und zieht sich durch das ganze Buch. Durch diese Begegnung mit Luigi Bonaventura ist „Germafia“ erst möglich geworden. Auch das Rummenigge-Kapitel. Der Fahrer des FC-Bayern-Vorstands hatte Kontakt zu Familienmitgliedern von Luigi Bonaventura. Rummenigge und sein Fahrer haben in Kalabrien Urlaub auf dem Resort eines Cousins von ihm gemacht.
Diesen Ex-Mafioso kennengelernt zu haben, war eine glückliche Fügung. Ich kann außerdem Ungerechtigkeit schwer ertragen. Die Diskriminierungen, die ich als Kind von einem sogenannten Gastarbeiter gemacht habe, haben mich da geschärft. Das hat dazu beigetragen, dass ich mich um das Thema Mafia kümmere, weil das ja personifizierte Unrechtssysteme sind. Leider ist das nicht immer sehr einträglich.
Sie haben es aber jetzt auf die Spiegel-Bestsellerliste geschafft. Sie schreiben in Ihrem Buch, das Thema Mafia sei vielen Menschen in Deutschland erstaunlich oft egal. Bleiben Sie dabei?
Auf die Spiegel-Bestsellerliste bin ich gekommen, ja. Das heißt aber nicht, dass ich jetzt zehntausende Bücher verkauft habe. Schön wäre es. Ich würde die Aussage, dass es den Menschen egal ist, etwas eingrenzen. Es gibt natürlich Interesse am Thema Mafia – wie an den Sopranos oder an der Filmtrilogie „Der Pate“. Leider aber wenig an einer vertiefenden, kritischen Auseinandersetzung, ganz zu schweigen von empirischen Analysen. Das ist das eine.
Und das andere?
Ich sehe auch nicht, dass man auf diese Form von Organisierter Kriminalität im Politischen besonders viel Augenmerk legt. Das mag damit zu tun haben, dass es augenscheinlich dringendere Phänomene gibt, zum Beispiel irgendwelche Leute, die in Museen einsteigen und Goldmünzen stehlen. Wenn man sich aber mit der etwas versteckter agierenden italienischen Mafia beschäftigen würde, würde man merken, dass es sehr wohl politisch ein großes Problem ist, was Aufmerksamkeit verlangt und das neue Instrumente erfordert. Und dass es nicht reicht, auf die polizeilichen Kriminalstatistiken zu schauen und zu sagen: Naja, so schlimm ist das Problem ja gar nicht.
Was sagt die offizielle Statistik?
Nicht viel. Nach den offiziellen Zahlen des Bundeskriminalamts gibt es 1003 Mitglieder der italienischen Mafia in Deutschland. Das ist aber schon mal mehr als das Doppelte als noch vor zehn Jahren. Das sind im Grunde 1003 Straftaten, die nicht geahndet werden, weil die Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation schon eine Straftat in Deutschland ist.

Erst vor wenigen Wochen meldete das Innenministerium in Stuttgart auf Anfrage, dass 170 namentlich bekannte Mafiosi in Baden-Württemberg leben. Nachdem ich Ihr Buch gelesen habe, meine ich, man müsste an diese Zahlen noch eine Null ranhängen, oder?
Ich kann nicht sagen, ob es eine Null ist. Oder ob man die Zahlen um den Faktor 5 erhöhen müsste oder um den Faktor 8. Aber es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Zahlen viel zu niedrig sind. Wenn man italienischen Experten zuhört, kommt man zu ganz anderen Größenordnungen: Das Bundesinnenministerium rechnet der ‚Ndrangheta 519 Mitglieder zu. Anti-Mafia-Staatsanwalt Nicola Gratteri, der seit Jahrzehnten die kalabrische Mafia verfolgt, spricht dagegen von 60 Locali, also eine Art Mafia-Ortsverein, in Deutschland.
Und um ein solches Locale zu gründen, braucht man mindestens 50 Mitglieder. Das bedeutet also, dass sich allein mindestens dreitausend Mitglieder der ‚Ndrangheta in Deutschland aufhalten. Mindestens.
In Ihrem Buch tauchen auch Locali rund um den Bodensee auf – zum Beispiel in Frauenfeld, Singen, Rielasingen-Worblingen, Engen, Markdorf oder Ravensburg. Bei mindestens sechs Locali reden wir hier also auch schon von mindestens 300 Personen.
Die Orte, die Sie genannt haben, wurden bei Anti-Mafia-Ermittlungen im Jahr 2010 und 2011 bekannt. Es ging hier vor allem um die Zelle in Singen. Man hatte Angst in Italien, dass es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der Zelle in Frauenfeld und der in Singen kommen könne. Die Schweizer Mafiosi drängten auf dieses Gebiet. Ein zweites Duisburg, wo 2007 sieben Leute vor einem Restaurant erschossen wurden, sollte sich nicht wiederholen. Es gab 2018 ein großes Verfahren in Konstanz, 2021 die „Operation Platinum Dia“ in Überlingen. Wir müssen tatsächlich davon ausgehen, dass es am Bodensee bis heute starke Mafia-Aktivitäten gibt.

Die Beispiele sind allerdings schon ein paar Tage her.
Wir sollten nicht in die Falle tappen und glauben, dass das Problem nach einem Ermittlungsverfahren gelöst ist. Die Mafiosi aus Singen sind damals verhaftet worden, manche später wieder freigekommen. Wie das eben so ist in einem Rechtsstaat. Bei Mafia-Operationen werden auch meistens nur die führenden Köpfe festgenommen, denen man was nachweisen kann, aber nicht das ganze Locale.

Ist die Bodensee-Region also der Schwerpunkt in der Mafia-Hochburg Baden-Württemberg?
Nicht unbedingt. Wenn wir uns Baden-Württemberg anschauen, haben wir flächendeckend immer wieder Schwerpunkte: In Mannheim die Cosa Nostra und die Stidda (die sizilianische Abspaltung der Cosa Nostra), in der Metropolregion Stuttgart bis ins Remstal ist die ‘Ndrangheta sehr stark. Auch Städte auf der Schwäbischen Alb haben Mafia-Präsenzen, im Kreis Heilbronn, wo ich herkomme, wurden erst wieder Mafia-Aktivitäten öffentlich. Es ist also falsch, wenn wir jetzt den Bodensee rausgreifen und behaupten, hier sei die Lage besonders schlimm.
Das Problem ist also flächendeckend. Warum gibt es trotzdem so wenige Mafia-Urteile?
Das Strafgesetzbuch stellt in Paragraf 129 kriminelle Vereinigungen unter Strafe, dazu gehört auch die Mafia. Der 129er wird zwar benutzt, um Ermittlungen einzuleiten, kommt aber quasi nie zur Anwendung, wenn es darum geht, Mafiamitglieder zu verurteilen. Und das hat eine relativ drastische Konsequenz. Denn dann gibt es offiziell so gut wie keine Mafiakriminalität. Es gibt dann nur Urteile wegen Drogenhandel, Brandstiftung oder Geldwäsche, aber eben nicht wegen Mafiakriminalität. Wir sollten den 129er also anpassen, denn er passt hier nicht.
Ist Deutschland deswegen so beliebt bei der Mafia geworden?
Wenn man die Mafiosi selber fragt, also Akten liest, dann liest man oft Sätze wie „Investiert in Deutschland. Wenn du dich dort unauffällig verhältst, wird dir nichts weggenommen.“ Also es scheint so, als würden die italienischen Maßnahmen besser greifen als die Maßnahmen in Deutschland. Im Kern geht es um die sogenannte Beweislastumkehr. Das heißt, wenn man in Italien ein Vermögen hat, und nicht sagen kann, wo das Geld herkommt, wird dieses Vermögen von einem Gericht eingezogen. Das passiert hier zu selten. Deswegen ist Deutschland das zweitwichtigste Land für die Mafia geworden.

Die Mafia verhält sich in Deutschland also anders als in Italien.
Es ist richtig, dass die italienische Mafia in Italien sichtbarer agiert als hier. Das bedeutet aber nicht, dass das in Deutschland immer so sein wird, denn es gibt in Italien ein Gebiet, was für Deutschland als Modellregion dienen kann: Norditalien. Das war auch kein Stammland der Mafia, sondern wurde von ‘Ndrangheta und anderen Clans kolonialisiert.
Anfangs hat man hier auch nur investiert, bis auf einmal die bekannten Methoden folgten: Konkurrenten, also ganz normale Geschäftsleute, wurden eingeschüchtert, bedroht oder gewaltsam zurückgehalten. Die Mafia drängte sich in die Politik und so weiter. Die ‘Ndrangheta ist clever. Wir dürfen uns in Deutschland also auch nicht in Sicherheit wiegen und sagen: Ja, die Mafia, die bringt ja nur ihr Geld hierher und das wird auch so bleiben. Wir müssen jetzt gegensteuern.