Bärbel Tapal ist ehrlich: „Als wir unsere Tochter das erste Mal in Marokko besucht haben, war das ein Schock für uns“, sagt die Tuttlingerin. „Kein Strom und kein fließendes Wasser. Unsere Steffi musste die Wäsche mit der Hand im Bach waschen.“

22 Jahre ist es her, dass ihre in Konstanz geborene Tochter Stefanie Tapal-Mouzon das erste Mal nach Marokko reiste. Damals studierte sie an der Fachhochschule Stuttgart Innenarchitektur. Zehn Tage dauerte die Exkursion, bei der die damals 24-Jährige nicht nur den Lehmbau Südmarokkos studierte, sondern sich auf Anhieb in das Land und seine Leute verliebte.

„Nach der Exkursion wollte ich unbedingt eine Zeit lang in Marokko leben“, erzählt Tapal-Mouzon. Sie hatte einst in Radolfzell den Kindergarten besucht und ist in Tuttlingen groß geworden.

Luisa Gscheidle (rechts im Bild) aus Stetten am kalten Markt besuchte 2023 den von Stefanie Tapal-Mouzon gegründeten Campus Vivante in ...
Luisa Gscheidle (rechts im Bild) aus Stetten am kalten Markt besuchte 2023 den von Stefanie Tapal-Mouzon gegründeten Campus Vivante in Marokko. | Bild: Luisa Gscheidle

Nach ihrem ersten Aufenthalt in Marokko entschied sich Tapal-Mouzon, das sechsmonatige Pflichtpraktikum während ihres Studiums beim Denkmalamt in Marrakesch zu absolvieren.

Mit dem Reiseleiter ihrer Studentengruppe, Haddou Mouzon, blieb sie über Briefe und Postkarten in Kontakt. Ende 2002 nahm er sie mit in sein Heimatdorf, das rund sechs Autostunden von Marrakesch im Hochtal Aït Bougoumez – übersetzt das „Tal der Glücklichen“ – liegt.

„Ich hatte keine Ahnung, wohin Haddou, mit dem ich damals befreundet war, mich bringt“, erinnert sich die heute 46-Jährige.

Heulen, schreien oder Zähne zusammenbeißen?

Zunächst sei sie nur aus Höflichkeit mitgefahren, weil ihr Haddou angeboten hatte, seine Heimat kennenzulernen.

„Ehrlich gesagt hatte ich gar nicht richtig Lust. Wir sind nachts angekommen. Es hat fast nirgends Strom oder fließendes Wasser gegeben. Ich musste dann aufs Klo und neben den Kühen meine Notdurft verrichten. Da stand ich und dachte: Soll ich jetzt heulen, schreien oder einfach die Zähne zusammenbeißen?“, erzählt sie lächelnd.

Das Hochtal Aït Bougoumez im Hohen Atlasgebirge. Übersetzt bedeutet der Berbername das „Tal der Glücklichen“.
Das Hochtal Aït Bougoumez im Hohen Atlasgebirge. Übersetzt bedeutet der Berbername das „Tal der Glücklichen“. | Bild: Campus Vivante

Am nächsten Morgen machte sie das Fenster auf und sah erstmals das Hochtal, das sich wie eine grüne Zunge durch die schroffen Berge zieht, die selbst im Sommer manchmal noch mit einer leuchtend-weißen Schneekuppe bedeckt sind: „Bei diesem Anblick machte es ‚zack‘ bei mir und ich wusste: Hier will ich bleiben.“

Von der praktizierenden Protestantin zur überzeugten Muslima

Während ihres Praktikums in Marrakesch lernte sie den zwei Jahre älteren Haddou näher kennen, bis sich die beiden schließlich ineinander verliebten. Und sie kam durch die Zusammenarbeit mit ihren muslimischen Kollegen erstmals in Kontakt mit dem Islam.

Während des Ramadans fastete sie mit, weil sie mit der Absicht nach Marokko gekommen war, wie die Einheimischen zu leben. „In der Zeit habe ich mit meinen Kollegen mehr diskutiert als gearbeitet“, sagt Tapal-Mouzon.

Sie habe viele Fragen mit in die Arbeit gebracht, zum Beispiel über die Stellung der Frau. „Jedes Mal habe ich eine Erklärung bekommen, ohne gedrängt oder missioniert zu werden.“

Stefanie Tapal-Mouzon bei einem Vortrag im österreichischen Vorarlberg unweit des Bodensees.
Stefanie Tapal-Mouzon bei einem Vortrag im österreichischen Vorarlberg unweit des Bodensees. | Bild: Campus Vivante

Fast beschämt erzählt die 46-Jährige, was für ein mulmiges Gefühl sie hatte, als sie zum ersten Mal den Koran in deutscher Übersetzung in ihren Händen hielt. Schließlich war Tapal-Mouzon gläubige, praktizierende Protestantin und wollte ursprünglich sogar Theologie studieren.

„Der Koran hat in mir drinnen etwas ausgelöst. Das war so ein innerer Drang, so eine Führung – ich konnte nichts dagegen tun“, sagt sie. Das Ergebnis dieser inneren Zuwendung war ihre Konversion zum Islam.

„Die ganze Familie war fassungslos“

Zu Beginn trug sie noch kein Kopftuch. Im ländlich geprägten Hochtal bedeckte sie mit einem Schal ihre Haare – um niemanden zu verletzen, wie sie sagt. „Irgendwann habe ich gemerkt: Ich möchte, dass die Leute sehen, dass ich Muslima bin. Mittlerweile würde ich mich ohne Kopftuch nackig fühlen.“

Tapal-Mouzons Umfeld reagierte heftig auf den Glaubenswechsel. Die ganze Familie war fassungslos, erzählt Stefanies Mutter Bärbel. Ihre Tochter sagt: „Das war die Hölle. Aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich habe es ja nicht böse gemeint.“ Innerhalb von sechs Monaten hatte sich ihr Leben um 180 Grad verändert. Sie wollte langfristig in Marokko leben und Haddou heiraten.

Stellung der Frau im Islam machte Sorgen

Ihre Eltern hatten Angst, dass eine Beziehung zu einem Mann, der über keinen richtigen Schulabschluss verfügt, nicht gut gehen könne, in einem Land, in dem man als Frau nicht voll akzeptiert würde.

„Die Stellung der Frauen im Islam machte uns Sorgen. Aber Steffi war von Kindheit an ein sehr eigenwilliger und selbstbewusster Mensch. Dass sie sich nicht unterdrücken lassen würde, war für uns klar. Bei Haddou spürten wir, dass er das auch nicht vorhatte“, sagt Bärbel.

Stefanie Tapal-Mouzon und Haddou Mouzon mit ihrem jüngsten Kind, Tochter Safiya.
Stefanie Tapal-Mouzon und Haddou Mouzon mit ihrem jüngsten Kind, Tochter Safiya. | Bild: Campus Vivante

Hochzeit feierten Stefanie und Haddou in Stuttgart, wo später auch das erste von fünf Kindern zur Welt kam. Bis zum Studienabschluss von Tapal-Mouzon lebte die kleine Familie ein Jahr in Deutschland. Haddou Mouzon arbeitete während dieser Zeit in einem Café, in einer Fabrik, für eine Umzugsfirma, in einem Restaurant und in einer Rosenzucht.

„Für mich war es nie ein Traum, in Europa zu leben. Ich wollte es lediglich besuchen. Ich fühlte mich nicht wohl in Deutschland und meine Heimat fehlte mir sehr“, sagt der 48-Jährige. Viele Marokkaner würden von einem besseren Leben träumen. „Aber es gibt genügend Möglichkeiten in Marokko.“

Plötzlich zwei Fremdsprachen mit neuen Schriftzeichen

Gesagt, getan: Im Sommer 2004 zog die junge Familie los, um ihr Glück in Nordafrika zu finden. Da Haddou Mouzon von Beruf Reiseführer ist, versuchten sie in Marokkos drittgrößter Stadt Fès ihren Lebensunterhalt im Tourismus zu verdienen. „Doch für uns war Fès wie Deutschland: zu viele Leute und zu viel Stress“, sagt er.

Nach sechs Monaten übersiedelten sie in seine Heimat: das abgelegene Aït Bougoumez-Tal an der Nordseite des Hohen Atlas. In den ersten Jahren im Tal hatte das deutsch-berberische Paar eine kleine Reisagentur und zeigte europäischen Touristen die Berge und das Tal. Je älter ihre Kinder wurden, desto mehr Gedanken machte sich ihre Mutter über deren Schulausbildung.

Der von Stefanie Tapal-Mouzon und ihrem Mann Haddou gegründete Campus Vivante in Marokko.
Der von Stefanie Tapal-Mouzon und ihrem Mann Haddou gegründete Campus Vivante in Marokko. | Bild: Campus Vivante

In der öffentlichen Grundschule kommen rund 40 Schüler auf einen Lehrer und oft gibt es nicht einmal genügend Tische. Viel folgenreicher ist, dass der marokkanische Lehrplan vorschreibt, die rein Berberisch sprechenden Kinder des Tals ab der ersten Klasse auf Arabisch und Französisch zu unterrichten.

„Das wäre, wie wenn deutsche Schüler in die Schule kommen würden und der Unterricht auf Chinesisch und Russisch stattfinden würde – zwei komplette Fremdsprachen mit zwei verschiedenen Alphabeten und Schreibrichtungen“, erklärt die fünffache Mutter.

Viele Kinder gehen bei diesem System unter, weil sie nicht mitkommen und der Lehrer oft gar nicht die Berbersprache Tamazight beherrscht. Die Folge ist, dass viele Marokkaner auf dem Land, wo überwiegend Berber leben, nicht lesen und schreiben können. Also überlegte Tapal-Mouzon, ihre Kinder zu Hause zu unterrichten.

Neben den üblichen Schulfächern steht im Campus Vivante auch mal das gemeinsame Backen und Kochen auf dem Stundenplan.
Neben den üblichen Schulfächern steht im Campus Vivante auch mal das gemeinsame Backen und Kochen auf dem Stundenplan. | Bild: Campus Vivante

Ängste und Schäden von öffentlicher Schule

Bis sie 2007 das Schweizer Paar Veronika und Jürg Mäder kennenlernte, das mit einigen Schülern ihrer selbst gegründeten „Scuola Vivante“ in Buchs an der Grenze zu Liechtenstein auf Bildungsreise im Tal war. „So eine Schule wie eure würde ich mir für meine Kinder wünschen“, sagte Tapel-Mouzon bei dieser Begegnung. Die beiden Schweizer antworteten: „Warum gründet ihr nicht eine eigene Schule? Wir helfen euch.“

Drei Jahre später erhielt das Schulprojekt „École Vivante“ mit Unterstützung aus der Schweiz, Deutschland und Frankreich die Genehmigung des marokkanischen Staates. Der Schulbetrieb startete mit einer Handvoll Schüler in den Wohnräumen von Stefanie und Haddou. Am Anfang hatten die beiden auch Schüler aufgenommen, die zuvor die öffentliche Schule besuchten. „Diese Kinder sindzum Beispiel aus Angst vor einem Hieb zusammengezuckt, wenn wir sie freundschaftlich begleiten wollten“, erzählt die 46-Jährige.

Der von Stefanie Tapal-Mouzon und ihrem Mann Haddou gegründete Campus Vivante in Marokko.
Der von Stefanie Tapal-Mouzon und ihrem Mann Haddou gegründete Campus Vivante in Marokko. | Bild: Campus Vivante

Sie habe unter den Schülern einen enormen Hunger nach einer wertschätzenden Betreuung erlebt. Die unter anderem von Waldorf und Montessori inspirierte „Vivante Pädagogik“ wurde angepasst an die berberische Kultur und islamische Religion im Tal.

Alles Arabische und Französische wird immer auch in die Muttersprache der Kinder, Tamazight, übersetzt. Da es im Tal wegen eines Gendefekts einige gehörlose Kinder gibt, darunter sind auch zwei von Stefanies und Haddous Kindern, erlernen alle Schüler die Gebärdensprache.

Die Gebärdensprache lernt jedes Schulkind am Campus Vivante, zusätzlich zu Arabisch, Französisch und Tamazight.
Die Gebärdensprache lernt jedes Schulkind am Campus Vivante, zusätzlich zu Arabisch, Französisch und Tamazight. | Bild: Campus Vivante

„Wir sehen, wie kompetent und selbstsicher die Kinder sind, wenn sie vor einer Gruppe Menschen sprechen“, sagt Stefanie. Es gab aber auch Eltern, die ihre Kinder wieder aus der Privatschule herausgenommen haben, weil ihnen der Druck zu gering war: zu wenig Hausaufgaben, zu viel vermeintliches Spielen.

Hohe Rate an Analphabeten

Rund 90 Prozent der Mütter und etwa 40 Prozent der Väter im Tal können nicht lesen oder schreiben. „Die meisten Kinder wünschen sich einen Beruf, bei dem sie sich nicht wie ihre Eltern in der Landwirtschaft jeden Tag den Buckel krumm rackern und trotzdem um das Überleben kämpfen. Viele träumen von den Städten oder von Europa“, sagt Tapal-Mouzon.

Groß war die Freude bei Schülern und Lehrern über die Spenden des Fördervereins „Zukunft für Kinder in Afrika“ aus Stetten am kalten Markt.
Groß war die Freude bei Schülern und Lehrern über die Spenden des Fördervereins „Zukunft für Kinder in Afrika“ aus Stetten am kalten Markt. | Bild: Campus Vivante

Der Wunsch wegzugehen, werde auch durch Fernsehen und Internet genährt. Deshalb liegt der Schulgründerin viel daran, durch Bildung Zukunftschancen im Tal zu schaffen, damit sich ihre Schüler später in der Heimat selbstständig machen und Arbeit schaffen, zum Beispiel im Bereich erneuerbare Energien, in der Entsorgung oder im Handwerk.

„Raus aus dem Hochtal, in die Großstadt“

Das Café am Campus Vivante mit Bergblick
Das Café am Campus Vivante mit Bergblick | Bild: Campus Vivante

Ein Meilenstein wurde jetzt im Juli erreicht: Die erste Generation tauber Schüler schaffte mithilfe der Gebärdensprache und unter Begleitung ihrer Lehrer den Mittelschulabschluss. Zwei von ihnen, Assia und Hamza, möchten nun auf die Sekundarschule für Gehörlose in der mehr als sechs Autostunden entfernten Hauptstadt Rabat gehen.

Modellschule für ganz Marokko

Die großen Unterschiede zwischen den verschiedenen Lebenswelten kennt Tapal-Mouzon nur zu gut. Seit fast 20 Jahren wohnt die gebürtige Konstanzerin nun schon im Hohen Atlasgebirge. „Ich profitiere bis heute von den Erfahrungen und Prägungen, die ich in meiner Kindheit in der Bodenseeregion mitbekommen habe“, sagt sie. Vieles davon fließe in die Lehmethoden am Campus Vivante ein. Dieser sei inzwischen eine anerkannte Modellschule für ganz Marokko geworden.

Spielerisch lernen die Kinder am Campus Vivante die Anbaumethoden der Permakultur.
Spielerisch lernen die Kinder am Campus Vivante die Anbaumethoden der Permakultur. | Bild: Campus Vivante

Ihr Ziel sei es stets gewesen, die Lebenschancen der Kinder und Menschen im Tal zu erhöhen. Die erste Generation an Schülerinnen und Schülern sei bereits ausgeflogen in die Welt. „Manche von ihnen kommen nun als Erwachsene wieder zurück in das abgelegene Hochtal“, so die Schulgründerin. Ihr Traum, ihre Arbeit irgendwann in die Hände dieser ehemaligen Schüler übergeben zu können, rücke näher.