Etwa 400 so genannte „Cold Cases“, also ungelöste Kriminalfälle und Langzeitvermisste, bei denen die Polizei von einem Tötungsdelikt ausgeht, gibt es in Baden-Württemberg. 23 Cold Cases aus den Jahren 1961 bis 2012 ereigneten sich im Verantwortungsbereich des Konstanzer Polizeipräsidiums, also in den Landkreisen Schwarzwald-Baar, Tuttlingen, Rottweil und Konstanz – darunter 14 mutmaßliche Tötungsdelikte, acht Langzeitvermisste oder versuchte Tötungen sowie ein unbekannter Toter, der bis heute nicht identifiziert werden konnte.
Seit zwei Jahren beschäftigt sich eine neu gegründete Cold-Case-Ermittlungsgruppe bei der Kriminalpolizeidirektion Rottweil mit diesen Fällen. Die dazugehörigen rund 500 dicken Ordner mit alten Akten hat das dreiköpfige Kripo-Team mit einem gemieteten Hochleistungsscanner recherchefähig eingescannt, um sie zu konservieren und Datenbank-Abfragen zu ermöglichen. „Manche Akten haben wir buchstäblich vor dem Zerbröseln gerettet“, sagt Kriminalhauptkommissar Andreas Reichert, Leiter der Cold-Case-Ermittlungsgruppe, im Gespräch mit dem SÜDKURIER.

Zwei besondere Fälle
Von Spanien nach Konstanz
Ein Cold Case mit direktem Bezug zur Region handelt von einem deutschen Auswanderer-Ehepaar, das seine ursprüngliche Heimat Nordrhein-Westfalen gegen das sonnige Spanien eingetauscht hat. Dorthin verlegte es seinen Lebensmittelpunkt und Geschäftssitz. Seinen Lebensunterhalt verdiente das Paar mit einem Autohandel und dem Verkauf von Pkw, wie Kripo-Kommissar Reichelt erzählt.
Im September 2004 verabschiedete sich der damals 56-jährige Mann von seiner Ehefrau. Er kündigte ihr an, zu einer Geschäftsreise aufzubrechen, weil er ein Auto in München kaufen wolle. Es sollte das letzte Mal sein, dass sich die beiden sahen. Dann reiste er mit dem Zug mehr als 1000 Kilometer quer durch Westeuropa und tauchte in der Konzilstadt am Bodensee wieder auf. Er checkte im Konstanzer Hotel „Bilger-Eck“ in der Reichenaustraße ein. Dort verliert sich am Dienstag, dem 21. September 2004, seine Spur – er scheint wie vom Erdboden verschluckt.
Das Hotel meldete seinen Gast bei den Behörden als verschwunden. Am 22. September 2004 begann die Konstanzer Polizei zu ermitteln. Zuerst stand wohl der Verdacht der Zechprellerei oder des Einmietbetrugs im Raum. Rasch gingen die Ermittler aber von einem möglichen Gewaltverbrechen aus.

Denn im Hotelzimmer fanden die Beamten zahlreiche persönliche Gegenstände des Verschwundenen: „Einen Aktenkoffer, Unterlagen und Dokumente zu Autokäufen, Kleidung, Gegenstände des täglichen Gebrauchs – alles war da“, sagt Reichert. Nur die Geldbörse und Reisedokumente des damals 56-Jährigen konnte die Polizei nicht vorfinden.
Fast zeitgleich rollten auch in Spanien die Ermittlungen an. Die Ehefrau meldete ihren Mann bei der spanischen Polizei als vermisst. Jahrelang gab es von dem Abgängigen kein Lebenszeichen. Die Frau musste das Schlimmste befürchten, etwa eine Entführung oder Ermordung ihres Mannes.
Panne bei der spanischen Polizei
Erneuter Schauplatzwechsel, dieses Mal in die Schweiz: Die Polizei des rund 160.000 Einwohner zählenden Kantons Schwyz kontrollierte im Jahr 2008 einen deutschen Staatsbürger. Bei der Überprüfung seiner Dokumente stellte sich heraus, dass es sich bei ihm um den vier Jahre zuvor in Konstanz verschwundenen und in Spanien als vermisst gemeldeten Ehemann – Jahrgang 1948 – handelt.
Die Schweizer Beamten meldeten die Zufallsentdeckung nach Spanien. Dort versäumten die Ermittler, ihre deutschen Kollegen per Kontrollmeldung über den Zufallsfund zu informieren, obwohl der Vermisste auch in Deutschland einige Jahre zur Fahndung ausgeschrieben war. „An uns ist es nicht gelegen“, sagt Kripo-Kommissar Reichert.
Ende 2020 kommt der zu den Akten gelegte Cold Case über das Bundes- und Landeskriminalamt zur Kripodirektion Rottweil und wird neu aufgerollt. „Wir haben Spuren und Asservate erneut ausgewertet, um Erkenntnisse über seine Reiseroute zu bekommen und wohin er wollte. Auch seine DNA wurde erneut untersucht und in Datenbanken abgeglichen“, sagt Reichert.
Mithilfe der Schweizer Behörden macht die Rottweiler Cold-Case-Ermittlungsgruppe den untergetauchten Mann im Kanton Schwyz ausfindig. Seit dem Jahr 2004 lebt der inzwischen fast 75-Jährige dort mit seiner Lebensgefährtin.
„Die Erleichterung ist groß, dass wir den Gesuchten nicht tot, sondern lebend aufgefunden und den Fall geklärt haben“, sagt der Kripo-Kommissar. Über die Beweggründe für sein Untertauchen habe sich der Langzeitvermisste nicht äußern wollen. „Er ist jedoch damit einverstanden gewesen, dass seine Ehefrau informiert wird, dass er lebt“, so Reichert. Ob auch Kinder des Paares von dem Verschwinden betroffen waren, ist bei der Kripo nicht bekannt.
Strafrechtliche Folgen für den Verschwundenen?
Gibt es für den Untergetauchten nun Konsequenzen, nachdem er seine Ehefrau so lange getäuscht und Polizeiorganisationen in gleich mehreren Staaten zum Teil über viele Jahre auf Trab gehalten hat? „Nein“, sagt der Vizepräsident des Konstanzer Polizeipräsidiums und Rottweiler Kripo-Chef Thomas Föhr.

Strafbare Handlungen habe der Mann mit seinen Handlungen keine gesetzt. „Wenn jemand sein altes Leben hinter sich lässt, geht uns das nichts an, das ist privat und wir fragen da auch nicht nach den Gründen“, sagt Föhr. Der gelöste Fall sei auch eine Bestätigung für die Arbeit der neuen Cold-Case-Ermittlungsgruppe.