Seit Montagnacht um 1.30 Uhr weiß Jürgen Keck, dass es nicht gereicht hat. „Ich bin fix und alle“, sagt der Noch-FDP-Landtagsabgeordnete für den Wahlkreis Konstanz/Radolfzell am anderen Morgen am Telefon.

Es war nicht nur denkbar knapp, sondern mutet auch verhältnismäßig ungerecht an: Keck steigerte sein Ergebnis schließlich um drei Prozent auf 12,1 Prozent, womit er 1,6 Prozent über dem – ebenfalls besseren – Landesschnitt der FDP liegt. Und trotzdem verpasste er das Zweitmandat.

Die FDP hat zu gut abgeschnitten in der Region

Der Grund liegt im verhältnismäßig guten Abschneiden der Liberalen im Regierungsbezirk Freiburg begründet. Die FDP hat keinen Wahlkreis im Land direkt gewonnen, ihre Abgeordneten kommen über Zweitmandate in den Landtag. Dabei kommt es darauf an, wer im Vergleich zu anderen Kandidaten seiner Partei innerhalb seines Regierungsbezirks prozentual die meisten Stimmen erreicht hat.

Abgeordnete sitzen während einer Sitzung im Stuttgarter Landtag auf ihren Plätzen.
Abgeordnete sitzen während einer Sitzung im Stuttgarter Landtag auf ihren Plätzen. | Bild: Tom Weller

Jürgen Keck schafft es nicht, sich eines der drei Zweitmandate im Regierungsbezirk Freiburg zu sichern, denn die gehen an Daniel Karrais (Rottweil, 16,2 Prozent), Niko Reith (Tuttlingen/Donaueschingen, 13,4 Prozent) und Frank Bonath (Villingen-Schwenningen, 12,2 Prozent). Mit anderen Worten Keck verpasst das Mandat um 0,1 Prozent.

Was wäre mit einem Zwei-Stimmen-Wahlrecht besser?

Ob das mit einem anderen Wahlrecht anders gelaufen wäre? Keck will das nicht bewerten – ihn beschäftigen gerade ganz andere Dinge, zum Beispiel, wie es bei ihm und seinen Mitarbeitern nach dem April beruflich weitergeht. Und auch die Experten streiten sich. Aber Ansätze zur Veränderung gibt es längst. Kecks FDP setzt sich schon länger für ein Zwei-Stimmen-Wahlrecht ein. Auch die Grünen streben das an. Anfang 2018 machten sie im Landtag einen entsprechenden Vorstoß.

Die Idee war es, zumindest einen Teil dieser Zweitmandate über eine Liste zu vergeben, auf der Frauen weit vorne platziert werden könnten. Doch auf eine derartige Wahlrechtsreform konnte man sich mit dem Koalitionspartner CDU nicht einigen. Allerdings spricht einiges dafür, dass sich daran in der kommenden Legislaturperiode etwas ändern könnte. Denn in ihrem Wahlprogramm zur Landtagswahl 2021 spricht sich nun auch die CDU für eine Reform aus.

„Es ist ein komisches Wahlrecht, das wir da haben.“
Reinhold Weber, stellvertretender Direktor der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg

Mit gutem Grund, meint Reinhold Weber, stellvertretender Direktor der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. „Es ist ein komisches Wahlrecht, das wir da haben“, sagt Weber. Zum einen bringe es viele Zufallsergebnisse mit sich. Weber denkt dabei an Jürgen Keck, aber auch an den Umstand, das gleich große Wahlkreise nur von einem oder auch von vier Abgeordneten vertreten werden.

Wenn die Sieger mit Abstand siegen, werden die Verlierer bestraft

Ersteres passiere immer dann, wenn Kandidaten sehr dominant seien, wie in Konstanz die Grüne Nese Erikli, oder in Stuttgart ihre Parteikollegin Muhterem Aras. „Dann haben die anderen so geringe Prozentanteile, dass sie in der Zweitauszählung nicht mehr zum Zuge kommen.“ Ebenfalls kurios findet Weber, dass die CDU bei der aktuellen Wahl für ihre Verluste noch belohnt werde. Durch Ausgleichs- und Überhangmandate stehe sie gleich gut da wie zuvor. „Irgendwann stehen wie mit einem Parlament mit 180 Abgeordneten da.“

Joachim Behnke, Politikwissenschaftler an der Zeppelin Universität Friedrichshafen
Joachim Behnke, Politikwissenschaftler an der Zeppelin Universität Friedrichshafen | Bild: Behnke

Zumindest in diesem Punkt – das aufgeblähte Parlament – stimmt Weber voll mit Joachim Behnke ein, der sich seit Jahren mit Wahlrecht beschäftigt. Ein Landtag, der immer größer und damit immer teurer wird, sei der Bevölkerung nicht zu vermitteln. Trotzdem hält Behnke, der an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen eine Professur für Politikwissenschaft innehat, das baden-württembergische Ein-Stimmen-Wahlrecht für gerecht.

Dass die 18 Sitze, die der FDP im neuen Landtag zustehen, entsprechend der Stimmen im Regierungsbezirk verteilt werden, sorgt nach seiner Ansicht für regionale Ausgewogenheit. „Es ist immer hart, wenn man es knapp nicht schafft“, meint Behnke. Das sei ärgerlich, aber nicht unfair.

Eine Liste ist „ein repressives System“

Mit einer Einschränkung, allerdings. Es gebe schon strukturelle Defizite, räumt der Wahlforscher ein: So schneide die FDP in einem Wahlkreis wie Konstanz mit einer großen studentischen Wählerschaft tendenziell immer schlechter ab – egal, wie gut der Abgeordnete gearbeitet, wie stark er sich eingesetzt habe.

Dennoch hält Behnke ein Zwei-Stimmen-Wahlrecht für ungerechter. Ob jemand einen guten Listenplatz bekomme, hänge dabei schließlich nicht von der Arbeit im Wahlkreis ab, sondern davon, ob die Parteiführung vom Kandidaten angetan sei. Die Liste als Kontrollinstrument über die personelle Aufstellung der Partei im Landtag – „das ist ein repressives System“.