Mardiros Tavit

"Auf der Heimreise haben wir uns Mut gemacht, wir wollten unsere Geschichte erzählen und für die Nachwelt erhalten", erzählt Gertraud Groß heute. 1994 fuhr sie mit einer Reisegruppe in die alte Heimat nach Nord-Ostpreußen. Im Internet hatten sie sich gefunden. Die Reise wurde von der Landsmannschaft Ostpreußen organisiert.

Mit neun Jahren wurde Gertraud Groß aus der Heimat deportiert. Erst 47 Jahre später, mit 56 Lebensjahren, durfte sie ihren Geburtsort wiedersehen. Bis 2005 fuhr die Gruppe im Zwei-Jahres-Rhythmus nach Ostpreußen. Und jedes Mal fehlten wieder einige, die Gruppe wurde stetig kleiner. Das hatten sie vorhergesehen, weswegen sie sich geschworen hatten, ihre Geschichten aufzuschreiben uns so zu erhalten. Viele von ihnen fingen damit an. Doch lediglich Getraud Groß stellte am Ende ein Buch fertig.

Jugendbild vonGertraud Groß.
Jugendbild vonGertraud Groß. | Bild: Leo-Tippbilder

"Mit 70 habe ich mir gesagt: Jetzt machst du das. Morgens von 4 bis 8 Uhr habe ich dann auf einem alten Computer geschrieben. Da wusste ich noch nicht richtig, wie ich den Text speichere. Ich war frisch angelernt", erinnert sie sich. Das Schreiben wurde eine Reise in die Vergangenheit. "Es sind viele Bilder wieder hochgekommen, die verschüttet waren."

Detailreich beschreibt sie das Leben auf dem Land östlich von Königsberg zwischen der Frischen und der Kurischen Haff. Es sind ihre Kindheitserlebnisse, als die Welt noch in Ordnung war. Im Januar 1945 bricht die heile Welt zusammen. Als die Rote Armee das Land überrollte, wurden die Kinder häufig obdachlos und zu Waisen, versteckten sich in Wäldern vor den Soldaten. "Wolfskinder" wurden diese unschuldigen Opfer des Krieges genannt. Dieses traumatische Schicksal erzählt Groß in nüchternen Worten. Das schreckliche Dasein im Lager, nachdem die Soldaten sie und ihre Schwester Elfriede aufgegriffen hatten. In Viehwagen wurden die Kinder, die das Lager überlebt hatten, in die sowjetisch besetzte Zone verschickt. Dort fanden Groß, ihr Vater und ihre Schwester über den Suchdienst des Internationalen Roten Kreuzes wieder zusammen. Am Ende verschlug es Groß nach Chemnitz.

Gertraud Großheute. Bilder: Lilive
Gertraud Großheute. Bilder: Lilive | Bild: Picasa

Im Internet fand sie eine Plattform für schreibende Senioren, die ihre Texte dort einstellten, um darüber zu diskutieren. "Da versuchst du auch was, stellst mal ein", dachte sie sich und stellte Teile ihres Lebensberichts ein. Dodo Wartmann aus Frickingen vom Literaturverein Lilive fielen die Texte auf. "Sie hat mich gleich gefragt, was ich da geschrieben habe, ob die Geschichte weiter geht. Ich habe ihr gesagt, dass ich meine ganze Lebensgeschichte in der Form geschrieben habe", erzählt Groß.

Wartmann war sofort von den Texten begeistert. Als Koordinatorin des ideellen Künstlerinnen-Netzwerks GAM-Y ist sie immer unterwegs, um Frauen mit künstlerischen Neigungen zu finden und zu fördern. Die beeindruckende Geschichte von Groß wollte sie publizieren. "Die Kommunikation lief nur über das Internet. Traute saß in Chemnitz und ich in Leustetten. Wir haben uns bis heute nicht treffen können. Immer kam etwas dazwischen", berichtet Dodo Wartmann. Die erste Auflage von "Wolfskind Traute – Tatsachenbericht" wurde von GAM-Y (Group Artistic Mam) 2011 herausgebracht. "An der Erzählweise wurde nichts geglättet, sie sollte authentisch bleiben", sagt Wartmann. Die Sprache im Buch blieb nüchtern und direkt. "Wir haben über verschiedene Foren das Büchlein im Internet beworben und ein Exemplar ins Haus der Geschichte nach Berlin geschickt", erzählt Wartmann. Daraufhin meldete sich die Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" bei Getraud Groß. 2013 hielt sie ihre Geschichte als Zeitzeugin in einem über zweistündigen Interview auf Video fest. Das Video wird Teil des künftigen Dokumentationszentrums der Stiftung in Berlin.

Suchkarte des IRK auf Rückseite des Buches "Wolfskind Traute" von Gertraud Groß.
Suchkarte des IRK auf Rückseite des Buches "Wolfskind Traute" von Gertraud Groß. | Bild: Privat

Groß bekam auch Anfragen aus der alten Heimat von Menschen, die sie durch ihre Besuche kennengelernt hatte. Auch sie wollten ihre Geschichte lesen, waren des Deutschen aber nicht mächtig. Es reifte die Idee, das Büchlein ins Russische zu übersetzen. Auch darum kümmerte sich Dodo Wartmann. In der Zwischenzeit war 2012 in Frickingen der Linzgau-Literatur-Verein (Lilive) gegründet worden, dessen Vorsitzende Wartmann ist. Zum fünfjährigen Bestehen sollte Lilive zusammen mit der GAM-Y eine russische Übersetzung herausbringen. "Wir haben lange nach einem Übersetzer gesucht", erzählt Wartmann. Denn das Budget für das Projekt ließ keinen Spielraum. Schließlich kam über Bekannte der Kontakt zu Olga Nemkova zu Stande. "Ohne Sonderkonditionen wäre die Übersetzung nicht möglich gewesen", erzählt Wartmann. 2015 übersetzte Nemkova während ihres Studiums die Geschichte in ihre Muttersprache. Rechtzeitig zur Jubiläumsversammlung erschien das Buch bei Lilive.

Wolfskind Traute

Das Buch "Wolfskind TrauteEin Tatsachenbericht" von Gertraud Groß liegt zweisprachig in Deutsch und Russisch vor. Herausgegeben wurde es von Dodo Wartmann. Das Lektorat übernahm Mathias Westburg, die Übersetzung ins Russsiche Olga Nemkova. Verlegt wurde es von Lilive und GAM-Y. Buch hat 138 Seiten und kostet 14 Euro. ISBN 978-3-940301-17-8. Erhältlich ist es über den Linzgau-Literatur-Verein bei Dodo Wartmann, E-Mail d.wartmann@lili-ve.com, im Internet: www.lili-ve.com