Herr Sonnenburg, Sie sind am Samstag der prominente Gast bei der Feier zu zehn Jahren Streetwork in Friedrichshafen. Welche Verbindungen haben Sie an den Bodensee?
Florian Nägele (Streetworker in Friedrichshafen, d. Red.) und ich kennen uns von den „Ausreißer“-Folgen, die wir unter anderem bis 2015 in Friedrichshafen gedreht haben. Das Jugendamt hier war übrigens das einzige in den knapp 30 Filmen in diesem TV-Reality-Format, welches uns im Amt drehen ließ und mit mir vor der Kamera kooperiert hat. Der Amtsleiter hat mir damals tatsächlich seine Handynummer gegeben. Ich hatte die beiden Fälle aus der Bodenseeregion damals aufgegriffen, mit den Mädchen gearbeitet und dann an Florian und dessen Kollegen den Staffelstab weiter gereicht. Ich wohne in Berlin und konnte das Mädchen nicht betreuen. Das war reale Arbeit, wie sie draußen läuft.
Gelten Sie immer noch als der Mann, der die Ausreißer und ihre Probleme ins Fernsehen gebracht hat?
Es hat mich damals wirklich überrascht, dass das so viele Leute sehen wollten. Wir hatten über 150 Millionen Zuschauer insgesamt, zum Teil bis zu 6 Millionen pro Abend. Das schafft heute kaum noch ein Fernsehformat, außer vielleicht der Tatort. Es hat die Leute sehr interessiert und sehr bewegt. Mich fragen heute noch Passanten auf der Straße, wie es dem Einen oder der Anderen aus der Serie geht. Die erinnern sich sogar noch an die Namen, obwohl das zum Teil zehn Jahre her ist. Das ist beeindruckend. Ich bin heute froh und stolz, dass ich das machen durfte.
Aber deshalb sind Sie ja nicht Streetworker geworden. Wie kam es dazu?
Das ist eine lange Geschichte. Mit hatte damals kurz nach der Wende ein Kollege von der Faszination eines Berufsfelds erzählt, das noch keiner kannte. Da ging es um Jugendliche in Gangs, brennende Tonnen, Spritzen im Park, zum Teil um amerikanische Verhältnisse in Berlin. So bin ich 1992 in den Beruf reingerutscht. Ich hatte Kulturwissenschaften im Osten studiert und immer schon gern mit und für Menschen gearbeitet. So kam ich zu Gangway e.V., dem größten Träger für Straßensozialarbeit in Deutschland. Wir haben mit den großen Gangs wie den „36ers“ in Kreuzberg oder den „Black Panthers“ im Wedding, mit türkisch-arabischen Gangs und Clans gearbeitet. Viele der Kollegen aus dem Westteil Berlins nannten uns damals die „Täter-Sozialarbeiter“, weil wir im Ostteil der Stadt unter anderem mit Rechtsradikalen arbeiteten. Und wir haben bei Gangway e.V. Standards für das Arbeitsfeld entwickelt, die in Deutschland und zum Teil in Europa ihre Gültigkeit haben. Gelernt habe ich den Beruf letztlich von der Pike auf von einer amerikanischen Streetworkerin, die in New York als und später mit Prostituierten gearbeitet hatte. Dann folgten 16 Jahre Straßensozialarbeit an Berliner Brennpunkten, bis die Anfrage vom Fernsehen kam.
Was kann ein Streetworker leisten und wo sind die Erwartungen zu hoch?
Elementar wichtig ist, dass die Leute im Team arbeiten können, so wie bei der Arkade. Eine Kommune, die sich nur einen Streetworker leistet, begeht ein Verbrechen an dieser Person. Man kann als Einzelkämpfer aus vielerlei Gründen diese Arbeit nicht machen – schon aus Sicherheitsgründen nicht. Ein Dreierteam ist Standard in der Straßensozialarbeit, und es dürfen keine befristeten Arbeitsverträge sein. Wenn Beziehungen aufgebaut sind, dann werden die Klienten im Regen stehen gelassen, bricht Vertrauen wieder ab, wenn bei einem befristeten Arbeitsvertrag der Streetworker wieder gehen muss. Das soll und darf nicht sein.
Ab wann sollte eine Stadt Ihrer Meinung nach im Streetwork-Bereich aktiv werden?
Das kann man so pauschal nicht sagen. Es hat damit zu tun, wie das Netzwerk der Jugendhilfe vor Ort etabliert ist, wie viele offene Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe da sind, welche Angebote und wo es Probleme gibt, wo sich zum Beispiel Jugendliche auf der Straße aufhalten, sich rumtreiben. Streetwork kann man in verschiedenen Bereichen machen, von Prostitution über Obdachlosigkeit bis hin zu Gangs. Davor braucht es immer eine umfassende Feld- und Bedarfsanalyse.
Was können Streetworker leisten, was Sozialarbeiter nicht können?
Der große Vorteil von Streetworkern ist ja, dass sie mobil sind, zu den Jugendlichen hingehen. Wir reden hier von der Komm- und Geh-Struktur. Sozialarbeiter in den Einrichtungen müssen mit ihrem Angebot den Nerv der jungen Menschen treffen, damit die Klienten in die Einrichtung kommen. Wir Streetworker bedienen die Geh-Struktur, suchen die Zielgruppe dort auf, wo sie sich aufhält. Und sehen dort von draußen, was die Probleme sind, warum sie sich treffen, was die Klienten brauchen. Aus der Analyse der Problemlagen beginnt dann die entscheidende Arbeit. Und die basiert auf Beziehung und Vertrauen, die schneller aufgebaut werden können, wenn du dich in die Welt begibst, in der sich die Zielgruppe aufhält und du ihnen nicht deine Regeln aufzwingen musst. Du gehst hin und wirst Teil dieser Szene auf der Straße, aber ein anderer Teil. Erst dann kannst du mit den Jugendlichen arbeiten.
In Friedrichshafen gibt es eine ganze Reihe von jungen Leuten, die durch die verschiedensten Probleme auf der Straße gelandet sind. Nimmt das auch anderswo zu?
Wir nehmen in Deutschland viel zu selten die Eltern in die Pflicht. Die Grundlagen für viele Probleme werden in den Elternhäusern gelegt. Fehlende Bindungen, falsche Konfliktlösungsstrategien, wenig Kommunikation: All das führt dazu, dass Jugendliche und junge Menschen perspektivlos und bindungslos durchs Leben taumeln. Viele sagen wirklich, dass sie auf der Straße endlich ihre Familie gefunden haben. Dabei ist das alles andere als das. Da herrscht ein harter Konkurrenzkampf. Das ist ein nicht aufzuhaltender Strudel, in dem sie sich dann bewegen und schwer wieder herauskommen. Es ist niemand da, der die Schranken weist. Ich appelliere seit Jahren dafür, den Fokus auf die Elternhäuser zu legen, die sich ihrer Verantwortung auch ihren heranwachsenden Kindern gegenüber bewusst sein müssen. Da sind starke Bindungen enorm wichtig. Deshalb müssen Streetworker zum Beispiel auch immer erst beweisen, dass sie andere Erwachsene sind als Mama und Papa, die für Enttäuschungen gesorgt haben. Das ist der größte und schwierigste Part.
Streetworker haben ganz oft mit den harten Fällen des Lebens zu tun. Wie steckt man da die Schicksale oder Enttäuschungen anderer Menschen, mit denen man regelmäßig konfrontiert wird, weg?
Das Entscheidende ist, dass man als Streetworker einen hohen Grad an professioneller Distanz entwickeln muss. Sonst kann man in diesem Beruf nicht über Jahre arbeiten, ohne Schaden zu nehmen. Man schafft es mit einem guten familiären Hintergrund, mit Freunden, die nicht unbedingt auch Sozialarbeiter sind. Man schafft es mit Supervision. Wer den Job macht, muss sich der Verantwortung von Anfang bis Ende bewusst sein, gerade weil er oft der letzte Strohhalm ist. Und man muss die Intensität der Probleme anderer professionell aushalten können. Ich habe viele Kollegen kommen und gehen sehen…
Sie waren mit der „Ausreißer“-Serie medial ein paar Jahre omnipräsent. Welche Auswirkungen hatte das für Ihre Arbeit und die Ihrer Kollegen als reale Streetworker?
Wir haben mit der Serie die Arbeit der Streetworker aus der Blackbox geholt. Kollegen kritisieren, wir hätten junge Menschen vorgeführt und seien übergriffig geworden. Damit bin ich über Jahre konfrontiert worden, habe mich damit auseinandersetzen müssen. Das war nicht immer einfach, und ich bin Spießruten gelaufen. Da ist ein dickes Fell gewachsen. Das entscheidende Kriterium für mich war, egal, was die Öffentlichkeit sagt, dass ich in dem, was ich tat, immer gerade war. Auch wenn es Fälle gab, in denen Jugendliche aus dem TV-Format zu einem späteren Zeitpunkten gestorben sind. Es war in diesem Moment allen klar, auch den RTL-Verantwortlichen, dass das ein reales Format ist. Aber selbst bei diesen schlimmen und sehr traurigen Fällen gab es keine Kläger aus dem familiären Umfeld, die gesagt haben „….das Fernsehen hat mein Kind umgebracht“.
Was fangen Sie mit all den Erfahrungen und dem Erlebten heute an?
Ich habe seit sieben Jahren einen Lehrauftrag an der privaten SRH Hochschule in Heidelberg und unterrichte im Kontext der Gemeinwesenarbeit Streetwork – und das mit meinen eigenen Filmen als Lehrmaterial. Im ersten Studienjahr lernen die Studenten so Prinzipien, Standards und die Herangehensweisen in der Straßensozialarbeit.
Streetwork kann man heute also lernen?
Nein. An der SRH ist ein Professor, der weit über den Tellerrand guckt. Das Berufsfeld irgendwo als Studiengang zu installieren, ist bisher noch nicht gelungen, obwohl es ja diese Prinzipien und Standards in der Straßensozialarbeit gibt. Als Zusatzqualifikation für Sozialpädagogen wäre das ein tolles Modul. Dann wäre es endlich möglich, diese Schranke „Learning by doing“ zu überschreiten, die ich nehmen musste und die man heute immer noch nehmen muss, um Streetworker zu werden.
Sind Sie heute noch auf der Straße?
Nein, ich bin seit vielen Jahren nicht mehr als Streetworker unterwegs. Aber ich arbeite mit einem Persönlichkeits-Entwicklungsprogramm für Langzeitarbeitslose und arbeitslose Akademiker. Diese Programme werden ständig weiterentwickelt und sollen demnächst auch für geflüchtete Menschen eine Anwendung finden. Im Auftrag der Jobcenter und Arbeitsagenturen in Deutschland bieten wir zehnwöchige Seminare für diese Klientel an. Ich arbeite also immer noch mit solchen Zielgruppen, die Umwege gehen, die anders sind. Dafür habe ich vor einem Jahr die Thomas Sonnenburg Akademie GmbH gegründet und möchte mit dieser in diesem Bereich weiterarbeiten. Vielleicht werde ich ja mal der Erste sein, der Streetwork als Studiengang anbietet…