Wenn Anna Hochmuth an der Uferpromenade in Friedrichshafen sitzt und hinaus auf den Bodensee blickt, ist sie ganz bei sich. Sie genießt es, dabei zuzuschauen, wie sich die Sonne auf der Wasseroberfläche spiegelt, die Schiffe vor dem Alpenpanorama ihre Runden drehen und die Enten leise quakend an ihr vorbeiziehen. „Hier kann ich abschalten“, sagt sie. „Und ich weiß all das jetzt noch viel mehr zu schätzen.“
Im vergangenen Jahr trennten Anna Hochmuth hunderte Kilometer von ihrem Häfler Lieblingsplatz. Die 23-jährige Studentin verbrachte ein Auslandssemester im englischen Canterbury und schloss dann noch ein Praktikum beim Zentralverband des Deutschen Handwerks in Brüssel an. „Ich reise gern und das waren tolle Möglichkeiten, um neue Erfahrungen zu machen“, sagt sie.
Englische Bohnen gegen schwäbische Spätzle
Wie sehr sich das Leben im Ausland von ihrem Alltag in Friedrichshafen unterscheidet, sei ihr aber erst vor Ort wirklich bewusst geworden. „Vor allem in England gibt es vieles, an das man sich erst mal gewöhnen muss“, erzählt Anna Hochmuth. Bei einigen Dingen sei ihr das während ihres fünfmonatigen Aufenthalts auch gelungen, mit anderen habe sie sich schwergetan. „Mit Linksverkehr und britischem Pfund kommt man irgendwann klar“, erklärt die Studentin und fügt lachend hinzu: „Aber englische Bohnen sind einfach etwas anderes als schwäbische Spätzle.“

Während ihrer Zeit in der belgischen Hauptstadt hat Anna Hochmuth vor allem die Natur vermisst. „In Friedrichshafen gibt es viel Grün, den See, den Blick auf die Berge – in Brüssel sieht man größtenteils Beton“, erzählt sie.
Deshalb habe sie sich nach den acht Monaten im Ausland auch sehr auf ihre Rückkehr nach Friedrichshafen gefreut. „Es war eine tolle Zeit in zwei schönen und aufregenden Städten“, sagt die 23-Jährige, „aber dadurch merkt man auch, was man an der Heimat hat.“
Abstand verändert das Verständnis von Heimat
Die Heimat schätzen lernen, nachdem man sie verlassen hat – „diese Erfahrung machen viele Menschen“, sagt Beate Mitzscherlich. Die renommierte Psychologin und Buchautorin beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Identitätsforschung und Heimatgefühlen. „Heimat ist der geografische, soziale und kulturelle Raum, an dem Menschen ihre Identität festmachen und zu dem sie eine emotionale Bindung haben – aber Heimat hat auch etwas mit Abgrenzung zu tun“, erklärt Mitzscherlich. Deshalb sei es nicht ungewöhnlich, dass Menschen, die eine längere Zeit an einem anderen Ort verbringen, ein anderes Verständnis davon gewinnen, was ihre Heimat ausmacht.
Dass Anna Hochmuth Friedrichshafen überhaupt als Heimat bezeichnet, ist nicht selbstverständlich. Denn die gebürtige Sinsheimerin ist erst vor drei Jahren in die Stadt am Bodensee gezogen, um an der Zeppelin-Universität Politik, Verwaltung und Internationale Beziehungen zu studieren. Mittlerweile fühlt sich die 23-Jährige jedoch so wohl in ihrer neuen Wahlheimat, dass sie auch über ihr Studium hinaus bleiben und die Stadt aktiv mitgestalten möchte. Die Chance dazu bekommt sie, denn sie wird in den kommenden fünf Jahren für die Grünen im Häfler Gemeinderat sitzen.
Die neue Heimat aktiv mitgestalten
„Das ist eine Möglichkeit, um die Bindung zu einem Ort zu stärken“, erklärt Beate Mitzscherlich. „Was man selbst mitgestaltet hat, bedeutet einem in der Regel auch mehr.“ Die Psychologin bezeichnet das mit dem englischen Ausdruck „making footprints“, was so viel bedeutet wie „Fußabdrücke hinterlassen“. Außerdem sei für ein starkes Heimatgefühl ein Dreiklang aus kennen, gekannt und anerkannt sein wichtig. In Anna Hochmuths Fall sei dieser Dreiklang besonders stark ausgeprägt, denn sie kenne nicht nur die Stadt, sondern wurde mit über 10000 Stimmen in den Gemeinderat gewählt. „Das zeigt, dass sie von den Menschen in Friedrichshafen nicht nur gekannt, sondern auch anerkannt wird“, so Mitzscherlich.
Ob sie auch noch die nächsten 60 Jahre am Bodensee verbringen wird, wisse sie noch nicht, sagt Anna Hochmuth. Aber ihren Lieblingsplatz an der Häfler Uferpromenade werde sie auf jeden Fall noch eine ganze Weile genießen.
Hier finden Sie alle Teile der Serie #Heimatliebe
Die Serie
Junge Menschen erzählen, was für sie Heimat bedeutet und warum sie in unserer Region leben.
Teil 1: Zu den Wurzeln zurück (16. Juli)
Teil 2: Die Großfamilie leben (17. Juli)
Teil 3: Geld ist nicht alles (19. Juli)
Teil 4: Neue Heimat (20. Juli)
Teil 5: Gemeinsam stark (23. Juli)
Teil 6: Sehnsucht ist groß (24. Juli)
Teil 7: Gewohnheit gibt Halt (25. Juli)
Teil 8: Auf Spurensuche (26. Juli)
Teil 9: Abschluss-Essay (27. Juli)