Es begann vergangene Woche mit Durchfall. „Ich dachte, ich habe eine Fischvergiftung“, erinnert sich die Patientin, die gerade von der Intensivstation auf Station 23 verlegt wurde. Sie hat sich bereit erklärt, mit dem SÜDKURIER zu sprechen, möchte aber anonym bleiben. Wir nennen sie deshalb Frau Rudolf. Frau Rudolf ist Mitte 50 und lebt alleine. „Am Donnerstag bin ich aufgewacht und konnte mich nicht mehr bewegen. Ich bin zwei Tage nicht mehr aufgestanden“, sagt sie. Kein Husten, kein Schnupfen, kein Fieber. An eine mögliche Corona-Infektion habe sie gar nicht gedacht.

Mittagszeit auf Station 23. Die Pflegerinnen Ajdina und Agnes machen sich bereit. Haarnetze und Handschuhe an, Kittel um, FFP3-Masken und Visiere auf. Nach jedem Besuch auf einem Patientenzimmer wird die Schutzkleidung wieder gewechselt. 30 bis 40 Mal am Tag. „Wir müssen aufpassen, keine Keime und Viren von einem ins andere Zimmer zu tragen“, erklärt Pflegerin Ajdina.

Pflegerin Ajdina macht ihren Job mit viel Hingabe. „Am härtesten ist die Sterbebegleitung für uns“, sagt sie.
Pflegerin Ajdina macht ihren Job mit viel Hingabe. „Am härtesten ist die Sterbebegleitung für uns“, sagt sie. | Bild: Wienrich, Sabine

Die Station 23 ist eine von aktuell drei Corona-Stationen im Klinikum Friedrichshafen. Rund 40 Corona-positive Patienten liegen stationär, zehn davon auf der 23. Nicht alle werden wieder gesund. „Wir hatten schon Monate, in denen auf unserer Station 24 Menschen gestorben sind“, sagt Pflegebereichsleiterin Karin Amann. Der Tod, er ist allgegenwärtig.

Waschen, anziehen, füttern – im Pflegebereich 23 brauchen viele Patienten – je nach Alter und Gesundheitszustand – ...
Waschen, anziehen, füttern – im Pflegebereich 23 brauchen viele Patienten – je nach Alter und Gesundheitszustand – sehr viel Pflegeleistungen. Die Pflegekräfte wechseln jedes Mal die Schutzkleidung, wenn sie einen Patienten versorgt haben, um keine Keime und Viren zu den anderen Kranken zu schleppen. | Bild: Wienrich, Sabine
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Vorsichtig schiebt Pflegerin Ajdina dem Patienten den Löffel in den Mund. „Schmeckt es?“, fragt sie. Er nickt: „Wie immer.“ Es ist ein älterer Mann, er hat sich trotz Impfung angesteckt. „Wenn wir uns anschauen, wen wir hier aufgrund einer Covid-19-Erkrankung behandeln, sind etwa drei Viertel der Patienten nicht geimpft und nur ein Viertel geimpft“, erläutert der Geschäftsführende Oberarzt und Intensivmediziner Dr. Günther Welte.

Die geimpften Erkrankten seien meist alt oder aber schwer vorerkrankt. Gleichzeitig werden die Patienten auf der Station 23 immer jünger. „Im Moment trifft es vor allem die 50- bis 60-jährigen Ungeimpften stark“, erläutert Welte, „wir behandeln aber auch immer wieder deutlich jüngere, Schwerkranke, die dachten, sie brauchen die Impfung nicht.“

Dr. Günther Welte ist Geschäftsführender Oberarzt der Klinik für Kardiologie, Pneumologie, Angiologie und Intensivmedizin.
Dr. Günther Welte ist Geschäftsführender Oberarzt der Klinik für Kardiologie, Pneumologie, Angiologie und Intensivmedizin. | Bild: Medizin Campus Bodensee

Erst neulich sei ein Mitte 30-Jähriger nach Tübingen geflogen worden. Tübingen – bei diesem Wort zucken auf Station 23 alle zusammen. Dorthin kommen Patienten mit akutem Lungenversagen, denen auf der Intensivstation in Friedrichshafen trotz künstlicher Beatmung nicht mehr geholfen werden kann. Tübingen – dort gibt es die extrakorporale Membranoxygenierung (Ecmo), also die künstliche Lunge. Das Blut wird außerhalb des Körpers mit Sauerstoff befüllt. Ein extrem aufwendiges Verfahren, aber keine Wunderwaffe. „Wir haben schon viele zur Ecmo geschickt, die nicht wieder gekommen sind“, sagt Oberarzt Welte.

Wundermittel gegen Corona? Gibt es bisher nicht, auch wenn Dr. Günther Welte Hoffnung hat, dass neue Medikamente Verbesserung bringen. ...
Wundermittel gegen Corona? Gibt es bisher nicht, auch wenn Dr. Günther Welte Hoffnung hat, dass neue Medikamente Verbesserung bringen. Dabei denkt er vor allem immunmodulatorische Therapien, die einen schweren Verlauf abschwächen können. | Bild: Wienrich, Sabine

Daran, dass die Sanitäter sie abholten, erinnert sich Frau Rudolf kaum mehr. Sie glaubt, es war am Samstag, aber so genau weiß sie es nicht. Das Zeit- und Raumgefühl hat sie irgendwann verloren. Ihre Tante habe den Rettungsdienst gerufen, nachdem Frau Rudolf kaum mehr sprechen konnte. „Ich konnte den Brustkorb nicht mehr heben“, sagt sie. Zu diesem Zeitpunkt sei der Antigen-Schnelltest immer noch negativ gewesen. Dafür zeigte das Röntgenbild eine doppelseitige Lungenentzündung. „Mit 82 Prozent Sauerstoffsättigung kam ich direkt auf die Intensivstation„, sagt sie. Per Maske wird sie beatmet. Ein PCR-Test bestätigt das, was alle bereits vermutet haben: Frau Rudolf hat einen schweren Verlauf einer Corona-Infektion.

Im Aufenthaltsraum der Pflegekräfte gibt es ein bisschen Weihnachtstimmung. Bei einem Kaffee erzählen die Pflegekräfte von ihrer ...
Im Aufenthaltsraum der Pflegekräfte gibt es ein bisschen Weihnachtstimmung. Bei einem Kaffee erzählen die Pflegekräfte von ihrer Erschöpfung, der Trauer um Patienten und der Sorge davor, dass die Situation auf der Station erneut brenzlig wird. | Bild: Wienrich, Sabine

Das Mittagessen ist verteilt, die Patienten brauchen jetzt Ruhe. Kurze Verschnaufpause im Aufenthaltsraum. Ein Adventskranz steht auf dem Tisch. Die FFP3-Masken werden nur schnell zum Trinken heruntergezogen und sofort wieder aufgesetzt. „Sobald ich von meiner Schicht nachhause gehe, atme ich erstmal tief ein und aus“, sagt Pfleger Roberto. Viele Patienten seien stark übergewichtig, müssen mehrmals am Tag gewendet, gedreht und gewaschen werden. Und das alles in Schutzkleidung, die bereits im Ruhezustand den Schweiß auf die Stirn treibt und das Atmen erschwert.

Manchmal ist Pflegerin Jessica doch ein bisschen verzweifelt. „Wenn ich draußen erzähle, was auf der Station hier passiert, ...
Manchmal ist Pflegerin Jessica doch ein bisschen verzweifelt. „Wenn ich draußen erzähle, was auf der Station hier passiert, glauben das einige nicht“, sagt sie, „aber wem soll man denn glauben, wenn nicht einer Krankenschwester, die täglich erlebt, was das Virus mit Menschen macht?“ | Bild: Wienrich, Sabine

Zum körperlichen Stress kommt der emotionale. „Wir waren schon oft vor der Pandemie am Limit“, sagt Pflegerin Jessica, die gerade ihre Schicht beginnt, „aber das hier hat uns echt den Rest gegeben.“ Die Erschöpfung nach 20 Monaten Schwerstarbeit – sie ist spürbar auf Station 23.

Karin Amann ist Pflegebereichsleiterin auf der Corona-Station. „Wir würden das hier gar nicht schaffen, wenn wir nicht so ein ...
Karin Amann ist Pflegebereichsleiterin auf der Corona-Station. „Wir würden das hier gar nicht schaffen, wenn wir nicht so ein gutes Team wären“, sagt sie. | Bild: Wienrich, Sabine

Ein neuer Patient wird angekündigt. Er wurde gerade in die Notaufnahme eingeliefert. Sauerstoffsättigung unter 80. Es wird kurz still im Aufenthaltsraum. „Das kann einen Hirnschaden zur Folge haben“, erklärt Pflegerin Ajdina. Da nur ein positiver Schnelltest vorliegt und noch kein PCR-Ergebnis aus dem Labor, braucht der Mann ein Einzelzimmer. Karin Amann stimmt sich kurz ab. Im Moment ist noch ein einzelnes Zimmer frei, aber es gab auch schon andere Zeiten, da war nur eine Dreier-Belegung möglich.

Die Schutzvisiere hängen in den Fluren der Station 23 und werden permanent desinfiziert. Im vergangenen Winter haben sich trotz ...
Die Schutzvisiere hängen in den Fluren der Station 23 und werden permanent desinfiziert. Im vergangenen Winter haben sich trotz Schutzkleidung viele Pflegekräfte selbst angesteckt. | Bild: Wienrich, Sabine

Was kommt jetzt mit der neuen Omikron-Variante?

„Bis in den Sommer durften wir Patienten erst zusammenlegen, wenn die Delta-Variante nachgewiesen war“, erklärt Mediziner Günther Welte. Das heißt: Es wurden mehr Zimmer gebraucht. „Das wird nun mit Omikron wieder so sein“, sagt Welte.

Der Oberarzt rechnet damit, in den kommenden Wochen, eine zusätzliche Station eröffnen zu müssen. Doch der Bettenaufbau hat Grenzen. An jedes Bett muss Personal – und das fehlte bereits vor der Pandemie. „Wir können es einfach nicht so weit kommen lassen, dass wir Kranke nicht mehr unterbringen und alle Operationen verschieben müssen“, sagt Welte mit Blick auf eine fünfte Welle.

Frau Rudolf kam gerade von der Intensivstation zurück auf die Station 23. Sie hatte ihre Covid-Erkrankung zunächst überhaupt nicht ...
Frau Rudolf kam gerade von der Intensivstation zurück auf die Station 23. Sie hatte ihre Covid-Erkrankung zunächst überhaupt nicht bemerkt und kam mit einer beidseitigen Lungenentzündung direkt auf Intensiv. Der Zugang steckt noch in der Halsschlagader. | Bild: Wienrich, Sabine

Manchmal haben die Intensivpfleger Frau Rudolf auf den Bauch gedreht. Um die Atmung zu unterstützen. Dann konnte sie für kurze Zeit ohne Maske atmen. „Mit der Sauerstoffmaske zu atmen ist sehr anstrengend“, erinnert sie sich, „man ist bis zu den Augen verdeckt und hört nur diesen Apparat. Ich hatte Panik, dagegen zu atmen.“ Frau Rudolf wurde vor vielen Jahren schonmal wiederbelebt: „Wenn man schon sehr viel hinter sich hat im Leben, merkt man, wenn nicht mehr viel Luft nach oben ist.“ Fünf Tage lang kämpfte sie auf der Intensivstation, dann bekam sie dank intensiver Behandlung wieder mehr Luft und konnte auf Station 23 verlegt werden. „Ich bin den Menschen hier so unglaublich dankbar“, sagt sie. Aus ihrer Halsschlagader baumelt noch der Venenkatheter.

Der angekündigte Patient ist da und wird von den Rettungskräften an das Pflegeteam übergeben. Was eine Corona-Infektion so schwierig macht? „Sie ist einfach nicht berechenbar“, sagt Dr. Welte. Viele kämen zu spät, weil sie den stillen Sauerstoffmangel gar nicht bemerken würden. Menschen, die dank künstlicher Beatmung auf der Intensivstation, überleben, seien schwer gezeichnet. „Häufig kommt es zu Organschädigungen, beispielsweise Nierenversagen“, erklärt Welte. Es folgen wochenlange Reha-Aufenthalte und Behandlungen wie Dialysen.

Die meisten Patienten bekommen Antibiotika, damit sie nicht zusätzlich eine bakterielle Infektion bekommen. Die sind – zusammen ...
Die meisten Patienten bekommen Antibiotika, damit sie nicht zusätzlich eine bakterielle Infektion bekommen. Die sind – zusammen mit Pilzinfektionen – häufige Begleiterscheinungen der viralen Covid-Erkrankung. | Bild: Wienrich, Sabine

Wenn Menschen zurück von der Intensiv auf die Station 23 kommen, sind Ajdina und ihre Kollege gefragt. „Ein junger Mann musste erstmal wieder alleine essen lernen“, sagt Ajdina. Die anderen nicken. Sie haben schon vielen zurück ins Leben geholfen. Erst neulich sei eine ältere Frau eingeliefert worden, die dem Tod nahe war. „Am Ende ist sie hier mit ihrem Rollator wieder herausspaziert mit Freudentränen in den Augen, weil sie es geschafft hat“, sagt Karin Amann und lächelt. Das sind die Glücksmomente auf Station 23, von denen es nicht allzu viele gibt. Wie viele Menschen sie in den vergangenen vier Wochen in den Tod begleitet haben? Ajdina muss nicht lang überlegen: „Zehn.“

Die Pflegegruppe 23 ist eine Corona-Station. Hier können maximal 21 Patienten behandelt werden, dann allerdings zu dritt auf einem Zimmer.
Die Pflegegruppe 23 ist eine Corona-Station. Hier können maximal 21 Patienten behandelt werden, dann allerdings zu dritt auf einem Zimmer. | Bild: Wienrich, Sabine

Zehn Menschenleben. Zehn trauernde Familien. Auf der Station 23 herrscht eigentlich Besuchsverbot, verabschieden dürfen sich die Angehörigen aber. Viele schaffen es gar nicht, haben Angst, sich anzustecken, berichten die Pflegekräfte. „Die Pflegekräfte sind die Brücke zwischen Patienten und Angehörigen“, erklärt Pflegebereichsleiterin Amann, „das ist emotional für alle sehr anstrengend.“

Ajdina, Agnes, Jessica und Roberto – sie haben schon viele beim Sterben begleitet. Und sie wollen nicht, dass es noch mehr werden, nur weil es Menschen gibt, die sich nicht impfen lassen möchten. „Fast alle bereuen ihre Entscheidung, wenn sie hier landen“, sagt Ajdina.

Frau Rudolf darf bald nach Hause. Allein sein will sie jetzt nicht sein, sie wird erstmal ihre alten Eltern besuchen. „Das war eine harte Schule“, sagt sie. So viele Menschen in ihrem Leben hätten sich große Sorgen um sie gemacht, allen voran ihre Eltern. „Sie wollen mich wieder vor ihrer Türe stehen sehen“, sagt sie, „und ich werde bald da sein.“

212 Menschen aus dem Bodenseekreis sind seit März 2020 an Corona verstorben.

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