Er kommt am Morgen. Reißt den Rollladen aus der Führung. Er kommt am Abend dieses 14. Januar 2024 wieder. Zieht Sophia (alle Name geändert) in ihrer Wohnung in Friedrichshafen an den Haaren, packt sie am Hals, drückt zu. Mal wieder. Er ist Anfang 20, sie ist Mitte 30. Vier Tage danach steht das Jugendamt vor der Tür und nimmt den gemeinsamen Säugling mit, gerade ein Jahr alt. Elias stürmt zur Wohnung der Nachbarin, hämmert an die Tür, beschimpft sie und sagt, er werde sie umbringen.
Drei Wochen später wieder Polizisten, wieder wegen Elias. Diesmal halten die Beamten ein Papier in der Hand, ein Beschluss des Amtsgerichts Tettnang: hundert Meter Abstand, zu ihr, zur Wohnung. Elias könnte das kaum egaler sein. Ihn treibt es eher an.
Elias ist einer von zwei Hochrisikofällen, die das Polizeipräsidium Ravensburg 2024 geführt hat. Das geht aus dem Sicherheitsbericht hervor. An diesen Fällen zeigt sich, wie die Polizei versucht, Femizide zu verhindern – und wo sie an Grenzen stößt. Ein „Hochrisikofall“ – so nennen die Ermittler Situationen, in denen aus Gewalt in Partnerschaften tödliche Gewalt werden kann.
Für diese Recherche gewährte das Polizeipräsidium Ravensburg dem SÜDKURIER Einblick in seine Arbeit. Polizeipräsident Uwe Stürmer und Ariane Adler, Leiterin der Koordinierungsstelle Häusliche Gewalt, erklären, wie die Polizei bei Hochrisikofällen vorgeht.
Die Spirale der Gewalt
März 2024: Kaum vier Wochen später klettert Elias über den Balkon der Nachbarin in den frühen Morgenstunden in Sophias Wohnung. Später macht er ein Bild ihrer Eingangstür, und schickt es ihr aufs Telefon.
Minuten danach taucht er an der Adresse ihres neuen Freundes auf, schiebt den Mann beiseite, stürmt auf Sophia zu, schlägt sofort zu, reißt ihr Haarbüschel aus, tritt auf die Brust. Sie sei eine Hure, eine Schlampe. „Das war noch gar nichts“, ruft er, als er im Hof steht.
Und oft genug bleibt es nicht nur bei Ankündigungen: „Bei den Tötungsdelikten ist es oft so: Wenn sie sie nicht haben können, dann soll sie niemand haben. Dann wird sie ,kaputt‘ gemacht, getötet“, sagt Polizeipräsident Uwe Stürmer. Das sei Ausdruck eines patriarchalen Besitzanspruchs – die Partnerin habe in den Augen solcher Täter nicht das Recht, sich zu trennen. „Etliche Trennungen sind ein Risiko“, so Stürmer. Männer wie Elias ließen sich in vielen Fällen weder durch Auflagen noch durch gerichtliche Beschlüsse beeindrucken.
„Das ist keine Ruhestörung“
Oft rufen Nachbarn die Polizei – und nicht selten läuft der Einsatz zunächst unter dem Stichwort Ruhestörung. Für Stürmer ist das eine gefährliche Verharmlosung. „Das ist keine Ruhestörung, das ist Gewalt, das ist eine Straftat“, sagt er. Noch immer würden viele Fälle von Nachbarn oder Vermietern bagatellisiert. Für die Polizei sei es wichtig, das klar zu benennen – weil schon die Wortwahl darüber entscheidet, ob man ein Problem ins Dunkelfeld zurückdrückt oder ins Hellfeld holt.
953 Mal rückte die Polizei im Jahr 2023 im Bereich des Präsidiums Ravensburg wegen häuslicher Gewalt aus. Es sind mehr Einsätze als je zuvor – und die Tendenz zeigt seit Jahren nach oben. Wenn die Streife kommt, greifen die Beamten nach festen Standards ein: Täter werden konsequent aus der Wohnung verwiesen, die Opfer bleiben.
Parallel werden mit einem mehrseitigen Formular Indikatoren wie Waffenbesitz, Trennungssituation oder Kinder im Haushalt erfasst. Bei ihnen schaut die Polizei nicht einfach zu, sondern versucht, durch Gefährderansprachen, Risikoeinschätzungen und Fallkonferenzen Schlimmeres zu verhindern.
Tödliche Partnerschaftsgewalt: Die Fälle in der Region
Im Präsidium bündelt Ariane Adler die Arbeit. Sie leitet die Koordinierungsstelle Häusliche Gewalt, wertet die Risikobögen der Reviere aus und berät die Kollegen. Bei Hochrisikofällen werden Fallkonferenzen einberufen, bei denen Polizei, Jugendamt und Justiz an einem Tisch sitzen. Das Aufgabe: ein Schutzkonzept enwicken, Verantwortlichkeiten festlegen.
Zehn Tage nach seinem letzten Angriff kontaktiert Sophia Elias. Sie treffen sich abends an einer Tankstelle, reden über ihre Beziehung, die Probleme. Zusammen gehen sie in ein Hotel in der Stadt. Ein Bekannter kommt hinzu. Später gibt es wieder Streit, der Bekannte geht dazwischen. Als die Polizei eintrifft, ist Sophia schon weg.
Immer wieder gibt es Kontakt zwischen den beiden. Es ist eine On-Off-Beziehung. Sie ist zunächst noch damit einverstanden, dass er zu ihr kommt. Bis er sie wieder misshandelt. Sophia geht kaum aus dem Haus, spiegelt den Nachbarn eine heile Welt vor. Elias droht ihr unterdessen, sie vom Balkon zu schmeißen. Sophia macht trotzdem keine Aussage bei der Polizei.
Paralysiert nach Martyrium
Adler beschreibt diese Ambivalenz so: Manche Opfer brauchten mehrere Anläufe. „Dann kommt er wieder mit dem Blumenstrauß, verharmlost sein Verhalten. Und deshalb ist die Ermutigung und Zeit in der Opferarbeit so wichtig.“ Für die Polizei sei das schwer auszuhalten – sie könne Schutz anbieten, aber nicht über den Kopf der Betroffenen hinweg entscheiden. „Viele Opfer sind so paralysiert und leiden, und die sind ja oft schon langjährig in einem Martyrium ausgesetzt“, sagt Adler.

Häufig richteten sich die Betroffenen in der Gewaltbeziehung ein – aus Angst, Scham, wegen der Kinder oder weil sie nicht wüssten, wie es weitergehen soll. Die Entscheidung liege letztlich beim Opfer. Damit Informationen überhaupt bei Beratungsstellen ankommen, muss das Opfer schriftlich einwilligen – eine Hürde, die häufig verhindert, dass Hilfe frühzeitig greift.
Die Arbeit mit Risikofaktoren
Um Risiken einzuschätzen, nutzt die Polizei das kanadische Verfahren ODARA – ein Katalog mit 13 Fragen zu Faktoren wie Waffenbesitz, Trennung oder früheren Gewalttaten. Jede Ja-Antwort erhöht den Punktwert. Bei Elias kamen neun Punkte zusammen – ein hoher Wert.
Er sah nichts ein, ließ sich nicht belehren oder beraten, hatte keine weiteren sozialen Bindungen und verschwand rechtzeitig, bevor die Polizei kam. Weder der Beschluss nach dem Gewaltschutzgesetz noch Gefährderansprachen beeindruckten ihn. Nach der letzten Ansprache rief er Sophia unmittelbar an: Ihm sei die Polizei egal, er werde die Frau umbringen, wenn er das wolle. Adler sagt, in den meisten Fällen wirke eine Gefährderansprache.
„Ich bringe dich und mich zusammen um.“
Nicht bei Elias. In Sophias Welt lagen viele Risikofaktoren – nicht zuletzt, weil sie sich weigerte, in ein Frauenhaus zu gehen. Elias nahm ihr die Wohnungsschlüssel ab, erlaubte nicht, dass sie sich mit einem anderen traf. Dann schlug er sie in aller Öffentlichkeit; ein Passant ging dazwischen, konnte Elias aber nicht aufhalten.
Zwei Wochen danach steht er nachts plötzlich wieder vor ihrer Wohnung. „Sophia, Sophia“, ruft er, bitte mach auf. Sie ruft die Polizei. Am Morgen danach schreibt er ihr: Er werde sie nicht in Ruhe lassen. „Ich bringe dich und mich zusammen um. Hast du mich verstanden.“
Mitte Juni legt Elias nochmal nach: „Wenn ich dich draußen sehe, werde ich dich kriegen.“ Er werde sie töten, schreibt er. Er werde dafür lieber 20 Jahre ins Gefängnis gehen. Die Polizei sei ihm scheißegal. „Wenn ich will, bringe ich dich trotzdem um.“
Drohungen, die durchsickern
Stürmer spricht in solchen Momenten von „Leaking“ – dem Durchsickern von Drohungen. Potenzielle Täter kündigen nicht selten an, was sie tun werden, manchmal fast beiläufig. „‚Wenn du mich verlässt, bringe ich dich um‘ – das ist eine typische konditionale Drohung“, sagt er. Für die Polizei sind solche Sätze ein zentrales Warnsignal. „Deshalb ist es wichtig, dass das soziale Umfeld solche Drohungen ernst nimmt.“ In Analysen früherer Fälle zeigte sich immer wieder: Solche Vorboten waren da.
Elias wird unterdessen zu einem Hochrisikofall eingestuft. Das bedeutet: Die Fallakte wird sofort im Lagezentrum hinterlegt, sodass schon beim Notruf sichtbar ist, dass höchste Gefahr besteht. Einsätze laufen dann mit Blaulicht, ohne langes Nachfragen.
Was nützt die Fußfessel?
Die Erfahrungen in Hochrisikofällen haben auch die Bundespolitik erreicht. In Berlin wird derzeit über eine Reform des Gewaltschutzgesetzes beraten. Uwe Stürmer verfolgt die Debatte genau. Er freut sich, dass das Thema endlich auf der großen Bühne angekommen ist – und die elektronische Fußfessel nun kommen soll. Spanien nutze das Instrument seit fast 20 Jahren, mit großem Erfolg.
Stürmer argumentiert dabei nicht nur mit dem Sicherheitsgewinn für die Opfer. Er rechnet auch nüchtern vor: Ein Hafttag koste den Staat rund 140 Euro. Bei einem lebenslangen Freiheitsentzug summiere sich das auf mindestens 750.000 Euro. Mit Verfahrenskosten und Entschädigungen für Hinterbliebene liege man bei etwa einer Million Euro. „Und was sind dagegen die Kosten einer Fußfessel?“, fragt Stürmer. Trägt der Gefährder die Fessel, hat das Opfer einen Empfänger und wird gewarnt, wenn ein Annäherungsverbot verletzt wird. Das Opfer kann Schutzräume aufsuchen, Hilfe holen – und läuft deutlich weniger Gefahr, dass der Täter unbemerkt zuschlägt.
Ein seltener Haftbefehl
Ende Juni beantragt die Staatsanwaltschaft Haftbefehl. Elias wird in Untersuchungshaft genommen. Das klingt wie eine Selbstverständlichkeit nach der langen Vorgeschichte. Das ist es aber nicht. Dass gewalttätige Männer wegen Zuwiderhandlungen gegen das Gewaltschutzgesetz tatsächlich in Haft kommen, ist äußerst selten – Elias war im Bereich des Präsidiums der erste Fall.
Das Amtsgericht Tettnang verurteilte Elias schließlich im Januar 2025 zu drei Jahren Freiheitsstrafe. Das Gericht sah ihn schuldig wegen gefährlicher Körperverletzung, mehrfacher Bedrohung, Nachstellung, Nötigung und Verstößen gegen das Gewaltschutzgesetz. Reue zeigte er nicht – vielmehr betonte er, er habe sich noch nie etwas zu schulden kommen lassen.