Die Nachricht vom Tod der Oberärztin erreichte Alexander Boger am Morgen des 1. Dezember. Als Behördenleiter der Staatsanwaltschaft Ravensburg wurde er von der Kripo über einen nicht-natürlichen Tod informiert. Die Ermittlungsbehörden werden bei Suiziden grundsätzlich eingeschaltet, um die Möglichkeit einer Straftat auszuschließen. „Ich habe daraufhin eine Obduktion veranlasst“, sagt der Leitende Oberstaatsanwalt beim Jahresgespräch der Behörde. Eine Fremdeinwirkung konnte ausgeschlossen werden.
Umfangreiche Unterlagen gesichtet
Vor ihrem Tod hatte die Klinikärztin wiederholt auf Missstände im Klinikum Friedrichshafen hingewiesen. Sogar zu Todesfällen soll es gekommen sein. Die Staatsanwaltschaft Ravensburg leitete am 7. Dezember ein Vorermittlungsverfahren ein. „Relevant war für uns, ob ein Anfangsverdacht für Straftaten vorliegt“, sagt Boger, „dafür gab es Hinweise, denen wir seither nachgehen.“ Die Ermittlungsgruppe „Cura“ wurde eingerichtet, umfangreiche Unterlagen wurden gesichtet und rund 50 Zeugen vernommen.
Im Februar leitete die Behörde schließlich ein Ermittlungsverfahren gegen fünf aktive und ehemalige Ärztinnen und Ärzte der Kardiologie und der internistischen Intensivstation ein. Ermittelt wird wegen des Anfangsverdachts der unterlassenen Hilfeleistung, der fahrlässigen Tötung, der Körperverletzung und des Abrechnungsbetrugs. „Nicht alle Vorwürfe betreffen dabei alle fünf Ärzte“, sagt Boger. Klar macht er auch, dass ein Anfangsverdacht noch kein hinreichender Tatverdacht oder gar Nachweis für eine Straftat sei.
Am 28. Februar erließ der Ermittlungsrichter einen Durchsuchungsbeschluss. „Die Kanzlei, die die Klinik vertritt, hatte zuvor deutlich gemacht, dass sie Patientenakten nur mit einem entsprechenden Beschluss herausgeben wird“, erläutert der Staatsanwalt. Das Klinikum begründet das auf Anfrage damit, dass Patientenakten den Ermittlungsbehörden nicht „auf Zuruf“ überlassen werden können. Gründe dafür seien die ärztliche Verschwiegenheitspflicht sowie datenschutzrechtliche Belange. Allein deshalb sei ein formeller Beschlagnahmebeschluss erforderlich gewesen. Gleichzeitig habe man der Staatsanwaltschaft signalisiert, dass das Klinikum Prüfungen und etwaige Ermittlungen kooperativ begleiten werde.
Gleich drei Staatsanwälte sichern Beweismittel
Anfang März wurden Beweisunterlagen von den Ermittlern sichergestellt. „Aufgrund der großen Datenmengen und verschiedener Standorte waren gleich drei Staatsanwälte und zahlreiche Polizeibeamte im Einsatz“, sagt Alexander Boger. Weiter erläutert der Oberstaatsanwalt: „Die Klinik hat die Unterlagen an diesem Tag freiwillig herausgegeben, sodass eine Durchsuchung nicht notwendig war.“ Doch warum wurden Beweismittel überhaupt erst drei Monate nach Bekanntwerden der Vorwürfe gesichert? „Man kann nicht einfach so durchsuchen. Ein Ermittlungsverfahren und die anschließende Durchsuchung kann man erst einleiten, wenn ein belastbarer Anfangsverdacht vorliegt“, betont Boger.
Unterlagen im Umfang mehrerer Terabyte müssen die Ermittler nun in den kommenden Tagen und Wochen auswerten. Neben 250 Akten von lebenden und verstorbenen Patientinnen und Patienten werden von den Ermittlern Schicht- und Dienstpläne gesichtet. Weitere Zeugen werden vernommen und die Beschuldigten gehört. Wie lange das in Anspruch nehmen wird? „Dazu kann man zum heutigen Zeitpunkt keine seriösen Angaben machen“, sagt Boger. Und auch Oberstaatsanwältin Christine Weiss betont: „Das ist sicherlich nicht in zwei bis drei Monaten erledigt!“ Dazu seien die Unterlagen zu umfangreich.
„Vom Aufwand und der Menge der Daten lässt sich das Verfahren mit einem großen Wirtschaftsfall vergleichen“, sagt Alexander Boger. Vom Ermittlungsaufwand habe es bislang nur wenige vergleichbare Fälle im Zuständigkeitsbereich der Staatsanwaltschaft Ravensburg gegeben. Mittlerweile ging bei den Ermittlern laut Staatsanwaltschaft auch eine Verdachtsanzeige der AOK wegen Abrechnungsbetrugs ein. Zur Anzahl dieser Fälle oder zur Summe kann die Staatsanwaltschaft keine Angaben machen.
Kreis der Betroffenen könnte sich noch verändern
„An diesem Punkt sind wir jetzt“, sagt Bogner. „Es handelt sich um gewichtige Vorwürfe, aber derzeit sind es eben Vorwürfe“, betont Boger. Die Prüfung der Unterlagen müsse nun zeigen, ob sich diese erhärten und Anklage erhoben wird. Nicht gegen alle Ärzte, die in den vorliegenden Unterlagen genannt wurden, seien bislang Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. „In den Unterlagen finden sich insgesamt zwölf Namen“, so Bogner. Möglich sei, dass sich der „Kreis der Betroffenen“ noch verändert.
Die betroffenen Ärztinnen und Ärzte wurden zuletzt für die Zeit der internen Ermittlungen vom Dienst am Patienten freigestellt. Der Chefarzt wird das Klinikum zudem nur nach Abstimmung mit der Geschäftsführung betreten. Darauf haben sich Geschäftsführung und der Chefarzt laut Klinik geeinigt.
Hintergründe zum Fall
- Die Vorwürfe, die im Raum stehen, wiegen schwer. Es geht um potenzielle Gefährdung des Patientenwohls und womöglich auch um Abrechnungsbetrug. Seit Ende 2021 hatte die Oberärztin immer und immer wieder Warnungen ausgesprochen, hatte E-Mails an ihre Chefs geschrieben, hatte nicht locker gelassen. Sie hatte einem Chefarzt unter anderem vorgeworfen, dass aus ihrer Sicht fachlich ungeeignete Kolleginnen und Kollegen auf der internistischen Intensivstation arbeiteten. Die Klinik bestreitet das.
- Die Klinikleitung wollte die kritische Kollegin befördern, was mit einer Versetzung in die Notaufnahme verbunden gewesen wäre. Damit war sie nicht einverstanden und klagte, unterstützt vom Betriebsrat. Am 30. November erfuhren die Ärztin und der Betriebsrat vom Antrag auf fristlose Kündigung. Am 1. Dezember sollte mit ihr das weitere Vorgehen in Bezug auf die Kündigung persönlich besprochen werden. In der Nacht zuvor nahm sie sich das Leben. Sie habe „dem Druck, der gegen sie aufgebaut wurde, nicht mehr standgehalten“, kommentierte der Betriebsrat gegenüber den Angestellten das traurige Ereignis.