Boris Palmer passt in keine Schublade. Der Oberbürgermeister von Tübingen hat kein Problem damit, Anstoß zu erregen, und tut das zur Genüge, selbst in seiner eigenen Partei, den Bündnisgrünen. Die Sehnsucht nach einem Politiker mit Ecken und Kanten scheint groß zu sein, auch in Meersburg: Vor vollem Saal präsentiert Palmer im Wein- und Kulturzentrum des Winzervereins auf Einladung des Kulturvereins Meersburg sein jüngstes Buch „Erst die Fakten, dann die Moral“.

Palmer macht ein „Beweisfoto“ von 160 Zuhörern

Das Coronavirus schreckte die rund 160 Zuhörer nicht vom Besuch ab und das muss Palmer gefallen. Zum einen persönlich, er macht am Schluss mit dem Handy auch ein „Beweisfoto“, wie viele selbst in Meersburg zu ihm kämen, „sonst glauben die Tübinger das nicht.“ Zum anderen passt das Corona-Thema bestens zu seinem Buch, das auch ein Kapitel über den deutschen Sicherheitswahn enthält.

Palmer: Coronavirus-Panik verursacht immense Kosten und Risiken

Die Angst vor dem Virus hält Palmer für überzogen und deren mögliche Folgen für weitaus gefährlicher. Wenn deswegen etwa ein Großteil der in den Tübinger Kliniken Beschäftigten zu Hause blieben, „dann gibt es garantiert viele Todesfälle“. Bereits jetzt verursache die Virus-Panik immense Kosten und Risiken. Ein Beispiel: „Keiner spendet mehr Blut.“

Einer seiner wichtigsten Sätze als OB: „Vergesst die Vorschriften“

Besondere Blüten treibt der Sicherheitswahn laut Palmer, was die Vorschriften für Versammlungsstätten und Baustellensicherheit angehe. Eine seiner wichtigsten Aufgaben als OB, erzählt er später in der Diskussion, sei zu sagen: „Vergesst die Vorschriften.“ Aber man sollte sich nicht auf jeden Bürgermeister verlassen, „dass er die Verantwortung übernimmt“.

Fahrverbote hält er für untauglich, will aber die Autos raus aus der Stadt haben

Das Risiko, an Abgasen zu sterben, schätzt Palmer ebenfalls als relativ gering ein, so verkürze sich dadurch statistisch die Lebenszeit um gerade mal 0,3 Jahre. „Coca Cola ist weitaus gefährlicher als Stickoxide“, sagt Palmer. Und so findet er Fahrverbote untauglich und unverhältnismäßig. Dafür gibt es viel Beifall. Doch Palmer schiebt gleich nach, „falls ein paar Grüne hier sind“, er sei nachdrücklich dafür: Autos raus aus den Städten. Dafür nennt er eine Reihe von Gründen, vom Flächenverbrauch für Parkplätze bis zu Verkehrstoten.

Oft werde ein moralischer Filter über Argumente gelegt

Sein Credo lautet: „Nicht mit falschen Argumenten richtige Ziele anstreben.“ Also: erst die Fakten. Doch oft werde ein moralischer Filter über Argumente gelegt. Das ist dem studierten Mathematiker zuwider: „Wer die ‚richtige‘ Haltung hat, hat Recht – das ist eine intellektuelle Zumutung!“ Und das sei sogar undemokratisch.

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Kritische Analyse zum Greta-Phänomen

Auch das Greta-Phänomen unterzieht er einer kritischen Analyse pro und contra, so in einem Artikel, den er für die Bild-Zeitung schrieb und der einen Shitstorm sowohl von Greta-Fans als auch -Hassern auslöste, die jeweils nur auf die Argumente ansprangen, die ihrer Meinung zuwiderliefen. Prompt wirft eine Zuhörerin Palmer vor, dass er Greta auf ihren Satz reduziere: „Ich will, dass ihr in Panik verfallt.“ Palmer hatte diesen Satz kritisiert, denn: „Panik löst Probleme nicht.“

Raunen und Klatschen im Publikum

Palmer analysiert nun erst die Szene: Einige Zuhörer raunen, andere klatschen. Dann sagt er: „Ich maße mir nicht an, die einzige richtige Sicht auf Greta zu haben.“ Und: „Ich lege Wert darauf, dass wir einen Diskussionsstil finden, der ruhig und nüchtern ist.“ Zur Diskutantin: „Sie kritisieren vor allem, dass ich Greta überhaupt kritisiert habe.“ Starker Beifall für Palmer. Der bestätige ihn, meint er lächelnd, dreht aber den Spieß gleich um und pikst auch die Applaudierenden: „Ich befürchte, dass einige, die jetzt Beifall spenden, mit mir gar nicht einig sind über den Klimawandel an sich.“

Palmer wird seinem Ruf gerecht und sagt, was er denkt

Palmer wird seinem Ruf gerecht, sagt, was er will – so auch zu Martin Frank vom Winzerverein, der ihn begrüßt hat, dass ihm Wein nicht schmecke –, nimmt später aber seine drei Flaschen als Geschenk gern an und fährt dann als konsequenter ÖPNV-Nutzer per Fähre zum nächsten Vortrag nach Konstanz.