Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, und bei Vater und Sohn im Hause Palmer stimmt der Satz gleich doppelt. Helmut Palmer, der einst berüchtigte Remstal-Rebell und Obstbauer, verlangte schon damals Eintritt für den Besuch seiner Wahlveranstaltungen. Das war in den 70er und 80er Jahren. Erstaunlich: Die Bürger zahlten, damals waren das drei Mark auf schwäbischen Dörfern, das entsprach zwei Glas Bier.

Auch der Junior Boris, 47, kassiert. Wenn er aus seinen Büchern vorliest, die er neben den Bürden von Amt und Partei schreibt, kostet das. 10 Euro verlangt der Buchhändler Osiander auch in Konstanz, wenn er den Tübinger Oberbürgermeister einlädt. Und die Leute sehen zu, dass sie rechtzeitig an Karten kommen, denn zwei Wochen zuvor ist der Mann ausverkauft.
Bei Palmer schläft fast keiner ein
Es ist punkt 20 Uhr, die Buchhändlerin schaut verschämt auf die Uhr, und noch kein Palmer weit und breit. Dann weht er herein, berichtet von der Lesung in Meersburg, der wilden Überfahrt, wirft den grünen Rucksack in die Ecke. Er packt Halspastillen aus, um den Abend stimmlich durchzustehen. 110 Minuten später entlässt er sein Publikum, die meisten beglückt. Fast keiner nickt weg – eine Leistung angesichts der faktenreichen, teils naturwissenschaftlich trockenen Materie.

„Erst die Fakten, dann die Moral“ heißt das jüngste Werk des grünen Politikers. Seine Lesung verknüpft er mit einer politischen Kundgebung, deren Weg er vom Bahnhof kommend kreuzte. Einige hunderte Menschen forderten auf der Konstanzer Marktstätte, dass Deutschland sofort alle Flüchtlinge aufnehme, die in Griechenland gestrandet sind. Palmer wurde erkannt und von den Demonstranten als „Rassist“ geschmäht. Den Vorfall referiert er, und typisch: Andere wären beleidigt, er dagegen lebt erst recht auf. Genüsslich zerlegt er den Vorstoß und verweist auf 2015, als die Bundesrepublik alle und jeden aufnahm und sich in Europa völlig isolierte.
Der Mann ist Mathematiker, Logik ist seine Stärke
Palmer war seit jeher ein Skeptiker einer schrankenlosen Willkommenskultur. Seine Argumente wiederholt er. Erst die Fakten, dann die Moral, will sagen: Was wären die Folgen, wenn erneut Menschen ohne Weiteres aufgenommen würden? Als Verwaltungschef hat er beste Argumente an der Hand, er berichtet von den Schwierigkeiten der Unterbringung, steigenden Mietpreisen. Sein brillantes Gedächtnis hilft ihm dabei, mühelos zitiert er Zahlen und Prozentanteile. Der Mann ist Mathematiker, das hilft ihm.
Unter Beschuss ist er am stärksten. Er sagt: „Es ischt so: Ich habe schon viele Shitstorms hinter mir“. Am meisten schütteln ihn die eigenen Parteifreunde, was ihn nicht im Geringsten stört. Dabei nimmt er in Kauf, dass er aus sämtlichen Personalspekulationen fällt, sobald sein Name fällt. Kretschmann-Nachfolge? Aber niemals, raunen die Landesgrünen. Boris niemals.
Ein grüner Volkstribun mit Talent zum Austeilen
Palmer genießt die Außenseiterrolle in der Partei und im oft selbstgerechten Öko-Milieu. Zum Ausgleich erntet er die Sympathie seiner Zuhörer. Er rückt ihnen auf die Pelle und rückt das Tischchen, an dem er sitzt, in den Mittelgang. Derartig eingerahmt blüht er auf. Ein grüner Volkstribun und Volkspädagoge, der hellwach schwadroniert. Alle kriegen ihr Fett ab, auch die Presse. Worüber sich die Zuhörer wiederum mächtig freuen. Solche Seitenhiebe liebt er und kann er.

Insgesamt ein bunter politischer Abend. Palmer wirft ein frisches Honigbonbon ein. Das Thema Coronavirus darf nicht fehlen. Er versteht die vielen Vorsichtsmaßnahmen, warnt aber vor der Hektik, die sich breitmache. Er nennt das den „Sicherheitswahn der Deutschen“ und illustriert es an einem Beispiel: Seit Corona werde kaum Blut gespendet. Schnell werde es zu Engpässen an den Kliniken kommen, warnt der Grünen-Politiker, lebensrettende Operationen würden ausfallen. Palmers Fazit: Wenn die Vorsicht zur Panik wird, gerät die Humanität unter die Räder.
Und wenn die Straßen dunkel werden?
Er denkt schon weiter: Wie lange hält eine hochnervöse Gesellschaft den Krisenmodus aus? Der Coronavirus sei noch überschaubar, denkt Palmer. Kritisch wird es erst, wenn der Strom ausfällt. „Dann haben wir dunkle Straßen und die Polizei verliert die Kontrolle.“ Er ist überzeugt: „Unsere Ordnung ist nur ein dünner Firn.“

Fakten statt Alarmstimmung, das ist seine Botschaft. So hat Tübingen eben nicht den Klimanotstand ausgerufen – im Gegensatz zu Radolfzell oder Konstanz, dessen Oberbürgermeister bei der Lesung in der ersten Reihe sitzt. Boris Palmer steht für Umweltschutz, aber von Angstmache hält er nicht viel. Auch Greta Thunbergs Rede in Davos (2019) lehnt er deshalb ab. Die Schwedin sagte damals: „Ich will euch Panik einjagen.“ Damit komme man nicht weiter, sagt der Tübinger. Und mit den idealistisch-gefühligen Appellen mancher Parteifreunde auch nicht.
Kaufen Sie mein Buch als Wertanlage!
Der Abend neigt sich dem Abend zu, Fragesteller setzen zu Fragen an, manche auch zum ausufernden Kurzreferat. Palmer wirft eine letzte Pastille ein, antwortet präzise. Dann winkt schon der Büchertisch, der Autor fordert zum Kauf auf mit dem Hinweis, das sei dann doch eine Wertanlage. Auch das traut sich sonst keiner außer ihm.