Birgit Stinner sitzt in der Küche. Vor ihr auf dem Tisch steht eine Schüssel Salat. „Der ist mit Nüssen, mögen Sie, oder lieber eine Tasse Tee?“ Stinner lud ins Obdachlosenheim ein. Dort wohnt sie. Es ist ihr ein Anliegen, dass die Öffentlichkeit von den Zuständen dort erfährt. Im Gemeinderat wurde das Thema neulich aufgerufen. Die Fraktion BÜB+ forderte von der Verwaltung einen Statusbericht über die baulichen Zustände. „Man erfährt schlimme Dinge über die baulichen und sanitären Zustände“, heißt es in der Begründung.

Leben auf sechs Quadratmetern: das Zimmer von Birgit Stinner.
Leben auf sechs Quadratmetern: das Zimmer von Birgit Stinner. | Bild: Stef Manzini

Eine ältere Frau stürmt in die Küche, sie sagt ein paar Sätze, deren Sinn die Anwesenden nicht ganz verstehen können. Die Frau ist ist offensichtlich verwirrt. Das sei hier ganz normal, kommentiert Stinner. Es ist ruhig um die Mittagszeit in der „Baracke“, der Gemeinschaftsunterkunft für Obdachlose, in der Ottomühle 4, an der Straße nach Lippertsreute, nur einen Steinwurf von der Überlinger Müllkippe entfernt.

Durch einen äußeren Anstrich wirkt das Gebäude freundlich, im Inneren sind aber durchaus viele Mängel erkennbar. Der Standort weit ...
Durch einen äußeren Anstrich wirkt das Gebäude freundlich, im Inneren sind aber durchaus viele Mängel erkennbar. Der Standort weit außerhalb des Stadtkerns schneide die Bewohner von allem ab, erklärt eine Bewohnerin. | Bild: Stef Manzini

Auseinandersetzungen, teilweise auch mit Handgreiflichkeiten, seien in der „Baracke“ an der Tagesordnung, sagt die Frau, die hier seit Jahren lebt. Birgit Stinner wohnt derzeit zusammen mit elf Frauen und einem Mann in der Notunterkunft. Eine Bosnierin mit ihrer Tante sei bereits seit 30 Jahren dort, ein älteres Ehepaar sei neu hinzugekommen, eine Frau habe es nach sieben Jahren geschafft, in Uhldingen eine Wohnung zu finden.

„Die war aber erst so um die 50 und relativ gesund, nicht so runtergekommen und krank wie ich“, erzählt die ehemalige Rechtsanwältin. Von ihrem früheren Beruf will Stinner nichts mehr wissen, es sei zu lange her. „Ich bin schon sehr lange psychisch krank, auch viel zu dick, und Überlingen ist für mich verbrannte Erde, da habe ich einen schlechten Ruf weg, aber das ist auch kein Wunder“, erzählt Stinner.

Schimmel bildet sich an den Wänden und an der Decke der sanitären Einrichtungen.
Schimmel bildet sich an den Wänden und an der Decke der sanitären Einrichtungen. | Bild: Stef Manzini

Als beschämend bezeichnet Ursula Binzenhöfer, die Gründerin der Initiative „BWoÜ“ (Bezahlbarer Wohnraum in Überlingen) und Mitglied der BÜB+, die Zustände in der „Baracke“, die sie als „stinkendes Drecksloch“ bezeichnet. Auf einen entsprechenden Einwurf von Stadtrat Roland Biniossek (BÜB+) entgegnete Oberbürgermeister Jan Zeitler (SPD) unlängst sinngemäß, es sei erstaunlich, wie Biniosek die Stadt vor sich her treibe, man sei doch dabei, die Notunterkunft zu sanieren. Deren Kücheneinrichtung ist spärlich und in die Jahre gekommen, aber durchaus noch funktionell.

Schimmel zeigt sich hingegen an Wänden und Decken der sanitären Anlagen. Die Holzböden der äußerlich durch einen Anstrich vor wenigen Jahren relativ ansehnlichen Holzbauten sind an einigen Stellen durchgefault. Birgit Stinner bewohnt ein Zimmer mit sechs Quadratmetern. Bei Bedarf würden Renovierungsarbeiten der Zimmer durchgeführt, sobald diese einmal nicht belegt sind, erklärt die Stadt auf entsprechende Anfrage hin.

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Der Überlinger Münsterpfarrer Bernd Walter überzeugte sich kürzlich bei einem Besuch davon, dass doch für eine Notlage hier ausreichend Abhilfe geschaffen sei: „Es ist nicht komfortabel und nicht schön, aber zur Not reicht es aus.“

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Ursula Binzenhöfer empfiehlt in ihrem Leserbrief dem Oberbürgermeister und den Gemeinderäten „dort selbst einmal einen Tag und eine Nacht zu wohnen, zu kochen und zu duschen“. Sie meint „ihr aller Ekel würde dieses Elend beenden“.

Ohne Auto sind Bewohner der Ottomühle vom öffentlichen Leben abgeschnitten

Birgit Stinner wünscht sich eine andere Unterbringung, sie möchte nicht am Rande, sondern in der Stadt leben und fragt, ob dieses nicht am Schättlisberg möglich sei. „Dort entsteht doch die Unterbringung für die Flüchtlinge, wäre da nicht auch Platz für uns?“ Sie hätten doch keine Autos und wären in der Ottomühle praktisch von allem abgeschnitten, begründet Stinner ihren Wunsch.

Sie wiege nicht zwischen Einheimischen in Not geratene Menschen, Nicht-Deutschen oder Asylbewerbern auf, bekräftigt Ursula Binzenhöfer, aber was sie in der Notunterkunft gesehen habe, mache sie betroffen, beschämt und fassungslos.

Keine Sozialbetreuung vor Ort

Eine Sozialbetreuung der in der „Baracke“ wohnenden Menschen findet derzeit weder von der Stadt Überlingen noch durch das Landratsamt Bodenseekreis statt. Die Stadtverwaltung vertritt die Auffassung, dass dafür laut Sozialgesetzbuch der Landkreis zuständig sei. Im Gemeinderatsausschuss sagte Fachbereichsleiter Raphael Wiedemer-Steidinger, dass die Stadt formell lediglich den „Erfrierungsschutz“ leisten müsse, also für ein Dach über dem Kopf zu sorgen habe, nicht die Betreuung.

Dennoch sei es Ziel und Wunsch der Stadt Überlingen, den betroffenen Personen niederschwellig Hilfe zu bieten, damit sie möglichst rasch aus der Notunterkunft in geeignetere Wohnungen umziehen können und Platz frei wird für neue Notlagen. Petra Demmer, Geschäftsführerin im Caritas-Verband Linzgau, bestätigte diese Sicht und bot an, dass Fachleute der Caritas die Hilfe für Obdachlose übernehmen könnten. Sie müssten aber dafür erst einen Auftrag erhalten, für dessen Finanzierung, so auch die Darstellung von Oberbürgermeister Jan Zeitler, der Landkreis zuständig sei.

Es vergehe keine Woche, so Demmer, in der keiner der entsprechenden Klienten vor der Türe der Caritas stehe und um Hilfe bei der Suche nach Wohnraum bittet. „Die Leute sind sehr verzweifelt“, sagte sie. Einmal hätte jemand sogar damit gedroht, die Räume der Caritas anzuzünden, mit den Worten: „Auch ihr helft uns nicht!“

Das Landratsamt Friedrichshafen sieht laut Pressesprecher Robert Schwarz die Unterbringung bei Obdachlosigkeit und die dazu gehörende Sozialarbeit in der Zuständigkeit der Stadt Überlingen. Für die Bewohnerin Birgit Stinner ist es unmöglich, vom abgelegenen Standort der „Baracke“ aus externe Hilfsangebote anzunehmen, sie wünscht sich eine Betreuung direkt vor Ort. „Wir haben hier nur Kontakt zu den Mitarbeitern vom Ordnungsamt, wenn mal wieder etwas los ist.“ (sma, shi)