Plötzlich schaut Nick Platzer in den Lauf einer Kalaschnikow. Und das nur, weil er das Sturmgewehr, das er bisher nur aus Videospielen kannte, fotografieren will. Doch kaum hat er sein Foto geschossen, reißen ihn Soldaten aus dem Auto. 25 Jahre alt ist er damals. Er ist im Südsudan, um einen Dokumentarfilm zu drehen. Innerhalb von zwei Jahren besucht er dafür Bangladesch, Nigeria, Kanada, Südsudan, Kamerun, Senegal, Brasilien, Grönland und Australien.
Zwei Jahre lang ist er etwa alle zwei bis vier Wochen woanders. Er ist ein Reisender mit Kamera. Seine Ziele sind entlegene Orte, an denen die Lebensweisen der indigenen Gemeinschaften im direkten Kontrast dazu stehen, wie Platzer bisher sein Leben geführt hat.
Von der Fotografie zur Wirtschaft und zurück
In all diesen Ländern sammelt er Eindrücke, erlebt deren Landschaften und Einwohner. Mit all dem im Kopf gleicht Platzer einem Buch voller Geschichten: Kaum fällt ein Stichwort, sprudelt es dazu aus ihm heraus. Er hat viel gesehen, viel erlebt und will damit nun viel erreichen.
Ausgangspunkt ist Überlingen. Hier lebt er. Hier ist er aufgewachsen und zur Schule gegangen. Die Fotografie lernt er von seinem Vater. Eine Super-8-Kamera legt den Funken für seine heutige Begeisterung, die Welt in Bilder zu bannen.

Doch zuvor studiert er an einer Privat-Uni in Köln Digital Media Management, ein Wirtschaftsstudiengang. Vor allem lernt Platzer dadurch, was er nicht will. Umsonst war es dennoch nicht: Während der Corona-Pandemie hilft er bei seiner Mutter aus. Sie arbeitet als Steuerberaterin. Heute bezeichnet er es als seinen Tiefpunkt, das „BWL-Zeug“ und das „Auf-Zahlen-Starren“. Statt in Wirtschaftsunterlagen zu wühlen, will er rein in die weite Welt.
„Der erste Tag war extrem“
Der Zufall und seine Mutter führen Nick und Markus Mauthe zusammen. Der Friedrichshafener Fotograf und Umweltaktivist ist Botschafter für Greenpeace. Er will mit Platzer zwei Filme produzieren. Die Organisation trägt auch die Reisekosten. So willigt er ein. Endlich kann er seinen kreativen Drang besänftigen.
Von Stuttgart über Istanbul und Addis Abeba fliegt der Überlinger nach Juba, Hauptstadt vom Südsudan. „Der erste Tag war extrem – extrem interessant, extrem aufregend – dass so ein Chaos überhaupt funktionieren kann“, fasst er zusammen. Als zusammengewürfelte Container beschreibt er den Flughafen von Juba. Schon in der Unterhaltung mit dem Flughafenpersonal habe es kein System gegeben. Hilflosigkeit macht sich breit.
Für seine Naivität muss er bezahlen
„Mir wurde schnell klar, wie naiv ich bin“, fasst der heute 29-jährige Kameramann zusammen. Seine Handyhülle sieht aus wie ein 100-Dollar-Schein. Damit reist er durch eines der ärmsten Länder der Welt. Diese Unachtsamkeit weckt Begehrlichkeiten.
Vom Bürgerkrieg zerrüttet, suchen die Menschen im Südsudan Halt, auch finanziell. Alle 50 bis 60 Kilometer habe es Checkpoints, Stützpunkte, gegeben, an denen seiner Gruppe Geld abgenommen wurde. „Es war ein inoffizielles Mautsystem“, schildert Platzer. An einem der Stützpunkte steht dann der Soldat mit der Kalaschnikow und dem Schulteranschlag aus Sperrholz. „Weil ich einfach ein Foto von ihm gemacht habe, musste unser Guide ziemlich lange verhandeln“, schildert Platzer. Nach entsprechender Bezahlung darf die Gruppe ihren Weg fortsetzen.

Auf diesem verbinden sich Überlingen, Kamerun, Sierra Leone, Angola. Doch nach mehreren Wochen Drehzeit kommt die Eingebung: „Wir stellen die ganze Zeit nur Ethnofilme nach, der Weiße blickt auf die Schwarzen“ – das wollten Mauthe und Platzer ändern. So trat Diaka Salena Koroma in das Leben des jungen Kameramannes, wie nie zuvor jemand in sein Leben trat.

Das Filmteam brachte sie ins Spiel, um eine afrikanische Stimme auf diese unbekannten Orte, Lebensweisen und Völker zu bekommen. Die Erkenntnis: In Angola oder Sierra Leone kennt man auch nicht unbedingt die jeweiligen Kulturen. „Die Menschen dort haben nicht die Möglichkeit, herumzureisen wie wir Europäer“, sagt Platzer.
Mit gebrochenem Fuß auf einen Berg
Da ist die Neugierde umso größer, als sich die Möglichkeit auftut, den Berg Hoséré Vokré in Kamerun zu besuchen. Es ist einer dieser letzten Orte, die dem westlichen Einfluss verborgen blieben und über die Mauthe und Platzer in ihrem Film berichten. Fast ein Jahrzehnt war kein anderer als einer der ansässigen Dupa und Sapa mehr auf dem Berg.

Am Morgen des Tages, an dem die Gruppe aufbrechen will, fällt die Sonne durchs Fenster. Platzer will die Szene fotografieren. Er liegt noch im Bett, als er aufsteht und nach der Kamera greift, rutscht er aus. Der Aufprall bricht sein Fußgelenk. Dennoch wollte er nicht zurückbleiben. „Die Wahl war nicht schwer, entweder ohne Internet und mit einem schmerzenden Fuß im Dorf bleiben, oder ich folge meiner Liebe“, fasst er zusammen. So schleppt er sich auf den knapp 2000 Meter hohen Hoséré Vokré.

Träumen gegen alle Widerstände
Im März kam ihr gemeinsamer Sohn auf die Welt. „Es ist der nächste Schritt in eine ganz neue Reise“, sagt der Dokumentarfilmer. Seit Arri geboren wurde, beschränkt sich Platzers Bewegungsradius deutlich. Nun versucht er, lokale Aufträge zu ergattern. Werbung und Imagefilme für ansässige Unternehmen am Bodensee. Die BWL-Welt kommt wieder.

Sein Ziel ist eine eigene Serie. „Dreaming against all odds“, grob übersetzt: Träumen gegen alle Widerstände. Er will mit Menschen aus allen sozialen Schichten sprechen, nach ihren Träumen fragen, ihren Visionen. Mit seinem Vater etwa, der von einer Jacht träumt, oder seiner Freundin Diaka, die die erste Präsidentin Sierra Leones werden möchte. Ihr Onkel war es schon. Nur zuerst ist Platzers Traum, für seinen Film einen Vertrieb zu finden.
Viel bewegen mit Filmen
Die zurückliegenden drei Jahre haben seinen Blick verändert: „Ich bin interessierter geworden. Meinem eigenen Weltbild gebe ich weniger Gewicht“, sagt er. Er ist zurückhaltender geworden und offener für Unbekanntes. „Ich toleriere alles, außer Intoleranz“, sagt er. Nachdem er dachte, Technologie könne alle Probleme der Menschen lösen, schätzt er das technologiefreie Leben: „Das Soziale ist viel wichtiger als das Technische.“ In die Politik will er seine Ansichten nicht tragen. Stattdessen: „Mit Filmen kann ich mehr bewegen.“