Ob man will oder nicht: Man kann sich dem Bann des Sprachmagiers Martin Walser nicht entziehen. Da liest ein 94-jähriger Greis in seinem Haus in Nußdorf von Vergänglichkeit, Sterben und Tod.

Und doch wirken der letzte Grandseigneur der deutschen Literatur und die Gedichte, Aphorismen und „Augenblickstexte“ aus seinem jüngsten Buch „Sprachlaub“ nicht larmoyant und resigniert, nicht lebensmüde – sondern lebenssatt: voller Weisheit, Witz und, nach wie vor, Widerständigkeit: „Unermüdlich sein und unersättlich und undurchschaubar und unerklärlich und unzumutbar und unsterblich, mehr nicht.“

Martin Walser ist erstmals bei der Büchernacht dabei

In hohem Alter macht Walser erstmals bei der Langen Nacht der Bücher mit, die dieses Jahr wegen Corona digital stattfindet, und diese späte Premiere ist zweifellos deren Glanzstück. In dem rund 50-minütigen Beitrag liest Walser aus „Sprachlaub“ vor, zu dem seine Tochter Alissa Aquarelle beisteuerte, deren Originale bis 25. April in der Galerie Vayhinger in Singen zu sehen sind.

Die Originale der Bilder Alissa Walsers für „Sprachlaub“ sind bis 25. April in der Singener Galerie Vayhinger zu sehen.
Die Originale der Bilder Alissa Walsers für „Sprachlaub“ sind bis 25. April in der Singener Galerie Vayhinger zu sehen. | Bild: Screenshot

Außerdem sprechen Vater und Tochter mit Oswald Burger über ihre Arbeit und ihr gemeinsames Werk. Dessen vollständiger Titel lautet: „Sprachlaub oder: Wahr ist, was schön ist.“ Martin Walser findet: „Mein Buch ist mit diesen Bildern das schönste Buch das ich kenne.“

Die Gemälde Alissa Walsers, bei denen ihr zufolge „die Schönheitslinie, die vermutlich von der Schlange abgeleitete Linie“, eine zentrale Rolle spielt, „sind für mein Buch ein reiner Schatz“, sagt der Vater. Preziosen sind aber auch seine Texte, und das Gespräch mit Burger ist ein weiteres Juwel. Das Thema Tod habe für ihn immer dazugehört, betont Walser darin. „Ich war nie ohne Sterben.“

Mit zehn Jahren verlor Walser, dessen Eltern eine Wirtschaft in Wasserburg betrieben, seinen Vater, der für ihn ein „Vermittler“ zur Literatur war, mit 14 die ganz anders geartete Mutter. Alles, was der Vater hinterlassen hat und „womit sie nichts anfangen kann und womit ich auch nichts anfangen soll“ räumte sie auf den Dachboden, wo Martin es dann trotzdem fand.

Beide Eltern fehlten dem Frühverwaisten und er konnte sie zwar mit seiner literarischen Arbeit nicht ersetzen, aber „behalten, erleben“. So wünscht er sich in einem Text: „Ich würde gerne am Grab meiner Mutter Elvis Presley treffen. Singen soll er auf dem Friedhof in Wasserburg.“

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Walser hebt im Gespräch hervor: „Ich komme nicht weg von Wasserburg“ – und wiederholt den Satz. Dabei, erinnert ihn Burger, lebe er nun doch schon die längste Zeit seines Lebens, seit 1968, „in Nußdorf, in diesem Haus“. Doch Walser unterstreicht: „Wasserburg kommt in allen Träumen vor, Nußdorf nicht.“ Das sei eben der Unterschied zwischen Wirklichkeit und Fantasie: „Nußdorf ist wirklich, davon kann ich nicht träumen.“ Er betont: „Alles, was man hat, davon träumt man nicht. Träume sind die Bedürfnissprache der Seele.“

In einem Text resümiert er: „Angesichts dessen, was man tun möchte, ist das, was man tun kann, sehr wenig. Ich kann nicht sagen, dass ich gern sterben würde, aber ich kann sagen: Ich wäre gern tot.“

Martin Walser: „Ich glaube nicht, dass ich noch ansteckbar bin. Ich bin immun“

Burger fragt, ob der Tenor der neuen Texte etwas mit der Pandemie zu tun habe. Walser: „Das ist ein Fremdwort.“ Er fährt fort: „Ich werde mich nicht impfen lassen.“ Es lohne nicht mehr, er habe nur noch wenig Kontakt zu Menschen. Leicht verschmitzt schließt er: „Ich glaube nicht, dass ich noch ansteckbar bin. Ich bin immun.“

Burger hofft, dass weitere Werke auf „Sprachlaub“ folgen, das er für einen Anwärter auf den Preis für die am schönsten gestalteten Bücher hält.

Claudia Vogel stellt Kurzfilm „Die ganze Welt ist voller Wunder“ vor

Buchkunst auf höchstem Niveau birgt die 1832 gegründete, wissenschaftliche Leopold-Sophien-Bibliothek in Hülle und Fülle. Im Kurzfilm „Die ganze Welt ist voller Wunder“ stellt Claudia Vogel die erste öffentliche Bibliothek Badens sowie eine Auswahl an prächtigen Buchillustrationen aus dem 15. bis 17. Jahrhundert vor. Begleitet wird die anschauliche, neunminütige Präsentation von Gesängen des Überlinger Ensembles BlanscheFlur.

Holzschnitt aus Johannes Prüss‘ „Ortus Sanitatis“ von 1497 aus den Beständen der Leopold-Sophien-Bibliothek.
Holzschnitt aus Johannes Prüss‘ „Ortus Sanitatis“ von 1497 aus den Beständen der Leopold-Sophien-Bibliothek. | Bild: Screenshot
Eine von vielen Buchkunst-Preziosen aus der Leopold-Sophien-Bibliothek: ein kolorierter Holzschnitt, der die Schöpfungsgeschichte ...
Eine von vielen Buchkunst-Preziosen aus der Leopold-Sophien-Bibliothek: ein kolorierter Holzschnitt, der die Schöpfungsgeschichte illustriert, aus einer Nürnberger Koberger-Bibel von 1483. | Bild: Screenshot

Der Kurzfilm entstand ebenso anlässlich des 1250. Stadtjubiläums wie die am 9. April wiedereröffnete Ausstellung „Überlingen legendär!“, in die Kustos Peter Graubach nun auch mittels eines Films einführt, der bei der Büchernacht erstmals zu sehen ist. Graubach lässt darin bewusst viele spannende Fragen offen und wirbt so geschickt für den leibhaftigen Besuch der Ausstellung.

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Amüsant wirbt Museumskustos Peter Graubach für die Ausstellung „Überlingen legendär!“, die die sagenhafte Stadtgeschichte aufrollt, zu der auch der (Keinohr)-Seehas zählt. | Bild: Screenshot

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Die Ravensburger Schriftstellerin Katrin Seglitz liest in der Buchhandlung „BuchLandung“ aus ihrem Roman „Schweigenberg“. | Bild: Screenshot

Das Stück „Götterdämmerung 4.0“ von Harald Lenski tragen Mitglieder des Fördervereins Sommertheater vor. Den traditionellen Abschluss macht Oswald Burger mit seinen „Gutenachtgeschichten“, dieses Mal hat er Reisebetrachtungen des Schweizer Autors Franz Hohler ausgewählt.

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