Die Bundeslade stand auf dem Schrank seines Vaters. Eine handliche Truhe, vielleicht 70 Zentimeter lang und 30 Zentimeter tief. Ein Goldbacher Schreinermeister hat sie gefertigt, vermutlich in den 1970er-Jahren. Doch ihr Inhalt reicht viel weiter zurück und zeigt, wie sich Dorfgemeinschaften organisiert haben, als Überlingen noch Reichsstadt war. Der Goldbacher Bernd Woerner hat sie 2019 im Nachlass seines Vaters Wolfgang gefunden. Nun hat er die Chronik dem Stadtarchiv übergeben. Die Zeugnisse dieser frühen Form dörflicher Organisation dort einzulagern, gleicht einem Abschied von einer vergangenen Solidarität und Zugehörigkeit.

Sie umfassten Straßenzüge oder Ortsteile
„Nachbarschaften sind ursprüngliche Siedlungszellen“, erklärt Stadtarchivar Walter Liehner. Sie umfassten Straßenzüge oder Ortsteile, etwa die Ganzengasse, heute Friedhofstraße, die Wiestorstraße oder die Luziengasse. Überlingen war zu Reichsstadt-Zeiten nicht dicht besiedelt, eher in „Häuserhaufen“, wie Liehner es formuliert. Als zentrale Treffpunkte hatten die Menschen die örtlichen Wirtshäuser und Kirchen, in Überlingen unter anderem Sankt Jodok, in Goldbach die Kapelle Sankt Silvester.

In den Kirchen und Kneipen kultiviert sich das Sozialgefüge der bäuerlichen Gesellschaft der Zeit. Ziel der Nachbarschaften war es, bei regelmäßigen Treffen, Streitigkeiten und Konflikte untereinander auszuräumen, erklärt Walter Liehner. Wann und wie sich die Gruppen gegenseitig einluden, sei jeweils in einer Art Kodex festgehalten. Neben Differenzen regelten die Überlinger Nachbarschaften, wer welchen Mauerabschnitt im Fall eines Angriffs verteidigte; Nachbarschaften konnten aber ebenso kleinere Kredite für ihre Mitglieder vergeben.
Gassenmessner war das Oberhaupt
Es ist vergleichbar mit einer Versicherung im sozialen wie im finanziellen Sinn. Solidarität und Zusammenhalt spielten in den vergangenen Jahrhunderten eine deutlich größere Rolle als heute. Der Tod ist unumgänglich, das richtige Begräbnis wichtig. Stirbt jemand aus der Nachbarschaft, informiert der Gassenmessner die anderen über das Ableben. Er sammelt Geld für einen Blumenkranz der Gemeinschaft im Andenken für ihr verstorbenes Mitglied, er ruft die Menschen zur gemeinsamen Messe zusammen und organisiert das Begräbnis, erläutert der Stadtarchivar. Aus jedem Haushalt folgt jemand dem Trauermarsch als Zeichen der Anteilnahme.
Der Gassenpfleger ist das Oberhaupt der Organisation. Er führt Protokoll bei den Treffen, macht die Abrechnung und vermittelt auch außerhalb der jährlichen Zusammenkünfte. „Er ist vergleichbar mit einem Ortsvorsteher“, erklärt Liehner. Er vermutet, Nachbarschaften sind ein städtisches Phänomen. Beispielsweise in Ravensburg könnte es sie in ähnlicher Weise gegeben haben. In der Umgebung einer Reichsstadt erhielten sich Traditionen leichter, sagt er, auch die Kodifizierung ab dem 18. Jahrhundert sei urbaner Prägung.
Spezialfall Goldbach
Die Goldbacher Nachbarschaft ist ein Spezialfall, setzt der Archivar an. Sie liegt außerhalb des Kerngebiets, dadurch ist sie dörflicher und besitzt dennoch eine gewisse Eigenständigkeit. Über sie erzählt der Inhalt der Bundeslade. Die Kiste enthält mehrere Stadtchroniken, Schuldbriefe, Erklärungen zum Opfergeld, Schriften zur Weidegangsberechtigung von Vieh und über die Höhe des Botenlohns, „denn die Bauern hatten kaum die Zeit, nach Überlingen zu gehen“, sagt Walter Liehner.

Die erste Eintragung ist auf 1560 datiert. Damit existiert die Nachbarschaft beinahe ein halbes Millennium und hat mit Hubert Regenscheit bis heute einen Gassenpfleger. Historisch fällt in Goldbach die Nachbarschafts-Zusammenkunft mit dem Silvester-Patrozinium zusammen. Die Menschen orientieren sich an der Kapelle Sankt Silvester. Die um 840 entstandene Kapelle ist das älteste Gotteshaus im Bodenseekreis. Sie ist der Ort für einen Jahreswechsel im Zeichen der klärenden Gespräche, der Anteilnahme und des Miteinanders.
Eine Tradition nimmt ihren Lauf
Alles links und rechts der Straße Goldbach ist Teil der historischen Nachbarschaft. Eine Chronik von 1924 listet die Mitglieder auf, überschrieben mit „Wiedergründung“, vermutlich war sie zwischendurch ausgesetzt. 27 Namen stehen darunter. „Die Hausherren sind dort gelistet. Kinder und Frauen wurden nicht genannt“, erläutert Liehner. Er vermutet, jedem Haushalt gehören etwa fünf bis sechs Personen an.

Seit den 1920er-Jahren lebt Familie Woerner in Goldbach. Für Bernd Woerner bedeutet die Nachbarschaft: „Man kennt sich untereinander, das heißt man interessiert sich auch füreinander.“ Seit 2019 lebt er wieder im Überlinger Ortsteil. Sein Vater Wolfgang Woerner war Architekt, Stadtbaumeister in Überlingen und Teil der Kirchengemeinde in Überlingen wie in Goldbach. So kam er an die historischen Dokumente seines Heimatortes und ließ die „Bundeslade“ anfertigen.
Die Bundeslade von Goldbach
Wie die Truhe zu ihrem Namen kam, ist nicht bekannt. Bernd Woerner sagt in Anbetracht ihres biblischen Namensvetters: „Ich vermute, dass ein Spötter zu Werk war.“ Gemeinsam mit dem aktuellen Gassenpfleger Regenscheit hat er die Dokumente dem Überlinger Stadtarchiv vermacht. „Es waren vor allem soziale Gründe, die die Nachbarschaften lebendig hielten, diesen Zweck gibt es so heute nicht mehr“, sagt Woerner.

Wo man früher im Wirtshaus zu den Heidenhöhlen beisammen ist, ist der Stammtisch inzwischen im italienischen Lokal „Basilico“. „Wir haben einen monatlichen Stammtisch, aber keine Messe“, schildert der Goldbacher. Die Kapelle werde von der Kirche nicht mehr bedient, und spätestens mit Corona sei auch die Nachbarschaftspflege eingeschlafen, sagt Woerner. Das letzte Silvesterpatrozinium liege fünf Jahre zurück. Es war im Jahr 2020. Laut Woerner kamen etwa 60 bis 70 Menschen.

Nachbarschaft im digitalen Zeitalter
Seit den 1960er-Jahren, mit dem Zuzug vieler Neubürger, lösen sich die Nachbarschaften nach und nach auf. Viele geben ihre Dokumente ins Stadtarchiv, sagt Walter Liehner. Die Goldbacher Nachbarschaft verlagert sich derweil ins digitale Zeitalter. Woerner hat eine WhatsApp-Gruppe eröffnet, der aktuell etwa 40 Goldbacher angehören.