Und dann kommt sie endlich, die „Grenzgängerin“: Im langen grauen Rock und verwaschener weißer Schürze schlurft sie langsam auf die Leute zu. Sie zieht ihr Leiterwägele hinter sich her, das von all dem Tand, den sie darin mit sich führt, laut klappert. Mit dabei ist auch ihr treuer Hund, der auf den Namen „Buele“ hört. Wie sich im Laufe der Stadtführung dann zeigen wird, ist der Buele ein ganz braver und zutraulicher Hund bis zu dem Moment, wenn er eine Katze wittert.
Die Grenzgängerin, die sich Mariele nennt, versetzt die Gäste ins Jahr 1868, als die Stadt Engen zum Großherzogtum Baden gehörte und etwa 1600 Einwohner zählte, davon 160 Handwerker, wie Mariele in breitem badischen Dialekt zu berichten weiß. Bevor sie in die Altstadt aufbricht, erzählt sie von den damaligen politischen Geschehnissen, vor allem der Badischen Revolution von 1848, als die Revoluzzer um Friedrich Hecker und Gustav Struve von der Engener Bevölkerung mit Begeisterung empfangen worden waren.
Eine Dame aus der Touristengruppe will dann wissen, was eigentlich damals die Revoluzzer genau gewollt hätten. Mariele, um keine Antwort verlegen, kramt aus dem Leiterwägele das Manifest von damals hervor und zitiert aus deren 13 Forderungen, wie etwa nach freien Wahlen, Pressefreiheit, der Herstellung eines deutschen Parlaments und die Einsetzung von Schwurgerichten nach dem Vorbilde Englands. Doch, so warnt sie die Anwesenden, dürften sie ihr jetzt nur mit größerem Abstand ins Städtchen folgen, weil seit der niedergeschlagenen Revolution Ansammlungen von mehr als neun Personen in Engen streng verboten seien.

Bevor es dann steil bergauf zum Krenkinger Schlössle und zum Kornhaus geht, verteilt sie noch selbst gebackene Plätzchen, die gegen Auszehrung sehr wirksam seien, wie sie versichert. So gestärkt führt das Mariele die Gäste in die Altstadt, erst durch die Lupfenstraße, wohl einer der schönsten mittelalterlichen Gässchen mit herrlichem Blumenschmuck an den Fenstern, dann auf die Schulstraße und schließlich über die Sammlungsgasse bis hin zur Stadtkirche. Zu jedem Gebäude kennt sie die Historie und eine Anekdote reiht sich dabei an die andere. Sie erzählt auch von ihrem Schicksal als Grenzgängerin, wie sie, ohne festen Wohnsitz, von einem Ort zum nächsten zieht und schon froh ist, auf einem Strohsack übernachten zu können.
Das Leben als Knochensammlerin
Ins Engener Armenhaus geht sie gar nicht gern, es gebe dort sehr strenge Regeln und das Essen sei karg. Dort dürfte man auch nur hin mit Heimatschein, also dem Nachweis, dass man von hier stamme und unverschuldet in Armut geraten sei. Bei Eintragungen hingegen, also Verstößen gegen Recht und gute Sitten, ginge es ab in die Haftanstalt. Zum kargen Lebensunterhalt sammelt sie „Bohnerz“, also erzhaltiges Gestein, das sie bei Nässe auf den Äckern findet. Sie sammelt auch Knochen, das Seifensieder zu Mehl verreiben und dann zur Seifenherstellung nutzen. Immer wieder greift sie ins Leiterwägele, holt Tinkturen, Salben und selbstangesetzte Schnäpse hervor, die zum Beispiel gegen Schwindsucht und alle möglichen anderen Krankheiten helfen oder etwa die Manneskraft stärken sollen, wie sie versichert. Wenn es ganz eng wird und die Not groß ist, spielt sie den Engener Einwohnern auch mal die in Not geratene Wallfahrerin vor, legt dazu ein Kettchen mit Kreuz um und kommt auf diese Weise zu der ein oder anderen Mahlzeit. Manchmal auch, doch nur aus großer Not, reibt sie eine Schnur mit Honig ein, um damit in der Kirche sich aus dem Opferstock einige Kreuzer zu angeln.
Auf ihrem Weg durch die Altstadt macht sie die Gäste auch immer wieder auf die seltsamen Kreidezeichen auf dem Pflaster vor den Häusern aufmerksam. Zinken seien das, also Zeichen für Leute wie Ihresgleichen, die darauf hinwiesen, ob man in diesem Haus gegen Arbeit Essen und ein Nachtlager bekommt oder ob hier ein Geizkragen wohnt, um dessen Haus man einen Bogen macht. Nach zwei Stunden ist die Zeitreise ins Jahr 1868 zu Ende und Sibylle Laufer, wie die Grenzgängerin im richtigen Leben heißt, erntet den wohlverdienten Beifall für ihre Erlebnisführung durch Engen. Ein leckeres Plätzchen und ein Schnäpschen gibt‘s zum Abschied noch obendrauf.