Gailingen – „Wie können wir lebendig erinnern und gerade junge Menschen hellhörig machen gegenüber Anfeindungen von Demokratie, Toleranz und Menschlichkeit?“ Diese Frage stellt sich die wissenschaftliche Leiterin des jüdischen Museums in Gailingen, Ines Appel, immer wieder. Gailingen war vor der Judenverfolgung durch die Nazis einer der Schwerpunkte jüdischen Lebens im Hegau. Das Dorf an der Schweizer Grenze weist noch heute zahlreiche Spuren auf: Die Architektur der Häuser, der jüdische Friedhof und die Orte der Erinnerung. Der Verein für jüdische Geschichte in Gailingen hält nicht nur die Erinnerung wach, sondern auch den Kontakt zu den Überlebenden ehemaligen Dorfbewohnern und deren Nachfahren. Die Mitglieder des Vereins, allen voran Ines Appel, Bürgermeister Thomas Auer und der Alt-Bürgermeister Heinz Brennenstuhl, haben sich dem Kampf gegen das Vergessen verschrieben. Ihr Credo lautet: „Erinnerung für die Zukunft“. Denn das Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus bleibt für die junge Generation unvorstellbar. Umso wichtiger ist die Vermittlung durch Zeitzeugen in Schulen und an Gedenkorten.
Gailingen ist so ein Ort. Hier erlebte der Heranwachsende Heinz Heilbronn, 1920 in Gailingen geborener Sohn eines jüdischen Arztes, 1933 die Machtergreifung der Nationalsozialisten, die systematische Entrechtung und schließlich die Flucht und Deportation der Juden. In vier Tagebüchern hat er die Entwicklung von 1932 bis 1938 genau festgehalten. Er schildert den Wandel von einem unbeschwerten Schülerdasein bis hin zu Repressalien durch die Nazis.
Diese Dokumente dienten der Theater-AG des Singener Hegau-Gymnasiums unter der Leitung von Katja Rothfelder als Grundlage für eine szenische Darstellung. Passend zum Holocaust-Gedenktag, 80 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers in Auschwitz-Birkenau. „Über eine Million Menschen waren hier grausam gequält und ermordet worden, weil sie dem Bild einer auf Rassenwahn beruhenden Ideologie nicht entsprochen oder weil sie sich den Nationalsozialisten widersetzt hatten“, erklärte Thomas Auer. Zusammen mit Ines Appel und Heinz Brennenstuhl ordnete er die Geschichte von Heinz Heilbronn und dessen Familie in den großen historischen Zusammenhang ein.
In ihrer Einführung schilderten die Verantwortlichen der Gedenkveranstaltung die Entwicklung einer gedeihlichen Ko-Existenz von Juden und Christen in dem Dorf am Hochrhein am Beispiel der Familie Guggenheim-Heilbronn. Sie zitierten aus Dekreten der Nazis und zeigten, wie sich die Stimmung in der Bevölkerung nach und nach gegen die jüdische Bevölkerungsgruppe richtete. Sie berichteten vom Boykott jüdischer Geschäfte, vom Berufsverbot für den Arzt Sigmund Heilbronn 1938, dem Vater von Heinz. Sie erwähnten das Verbot für Juden (bereits 1933), eine Universität zu besuchen. Heinz Heilbronn fand einen Ausweg im Maschinenbaustudium in Rorschach, erhielt danach aber keine Arbeitserlaubnis in der Schweiz und wurde zwischen 1942 bis 1945 in einem Arbeitslager in Bern interniert. Ines Appel berichtete von der Sprengung der Synagoge in der Pogromnacht am 10. November 1938, davon wie Sigmund Heilbronn im Rathauskeller gefoltert, ins Konzentrationslager nach Dachau deportiert wurde und zusammen mit seiner Frau Rita und Tochter Grete im Februar 1939 nach Diessenhofen und später nach Kenia übersiedelte.
Als Heinz Heilbronn „als erster freier, stolzer Jude“ nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges am 23. Mai 1945 Gailingen wieder betrat, erkannte er seine Heimatgemeinde nicht wieder. Sein weiterer Weg führte ihn über Palästina nach Kenia. Am 1. März 1972 starb er, wie dem Grabstein auf dem Gailinger Friedhof zu entnehmen ist.
Bereits zwei Jahre vor dem Holocaust-Gedenktag hatte sich Katja Rothfelder mit dem Gedanken befasst, in der Theater-AG des Hegau-Gymnasiums die Nazi-Verbrechen zum Thema zu machen. Anlass seien die Stolpersteine gewesen, die als kleine Bronze-Steine vor den ehemaligen jüdischen Wohnhäusern im Rahmen eines Kunstprojektes an die Verfolgten und Ermordeten erinnern. Die persönliche Geschichte, die Tagebuchaufzeichnungen des jugendlichen Heinz Heilbronn lieferten den Stoff für das szenische Theaterstück.
Ines Appel und Doreen Heuer vom jüdischen Museum, sowie die Gemeinde Gailingen waren sofort zur Kooperation mit dem Hegau-Gymnasium bereit. Neun Schüler schlüpften in die Rolle des Heinz Heilbronn und zitierten in beeindruckender Weise aus dessen Tagebüchern. Als Altersgenossen fühlten sie sich in die Stimmungen des Chronisten ein, schilderten fröhliche und ernste Alltagserlebnisse eines Jugendlichen und die langsam wachsenden Ungerechtigkeiten, Ausgrenzungen und Demütigungen. Immer wieder wechselten die Darsteller ihre Rollen. Mal spielten sie den Heinz, dann den Lehrer, den Bürgermeister, die Unterdrücker. Als Kulisse dienten zwei Faltwände, die von oben bis unten mit den Tagebuchnotizen und Fotos von Heinz Heilbronn beklebt waren.
Zum Abschluss zitierte Heinz Brennenstuhl noch aus einem Brief der Nachkommen Dani, Trixi und Ruth Heilbronn an die Schüler. Sie drückten ihre Dankbarkeit für die Erinnerung an ihren Vater aus: „Es freut uns und bewegt uns zutiefst, dass Ihr Euch die Mühe genommen habt, einen Rückblick auf das alte Gailingen zu werfen. Es braucht Mut, sich der Vergangenheit zu stellen.“ Tief bewegt und mit lang anhaltendem Applaus würdigte das Publikum diesen Erinnerungsabend.