Einem guten Schauspieler sollte man niemals anmerken, ob er sich im Moment seines Auftrittes wohl fühlt oder ob er lieber irgendwo anders wäre. Ein guter Schauspieler nimmt unabhängig von Ambiente und Umgebung die Zuschauer mit auf seine Reise. Deswegen ist er ja auch ein guter Schauspieler. Ben Becker zählt zweifelsohne zu dieser Gattung. Er versteht es, mit seinem Charisma und seiner Erscheinung die gesamte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, die Gäste in einer Art und Weise in seinen Bann zu ziehen, sodass nichts zählt außer dem Blick aufs Wesentliche. Ben Becker könnte wahrscheinlich den Mephisto am Ballermann spielen und die Menschen mit den Sangria-Flaschen in der Hand würden ihm Glauben schenken.

Bei seinem Auftritt im Konstanzer Bodenseeforum gelang ihm dies über knapp zwei Stunden. „Ich, Judas“, das er als sein Projekt bezeichnet, trug der extrovertierte Mann mit der so furchterregenden wie einprägsamen Stimme vor. Er lebte das Stück, verkörperte eindrucksvoll die Hauptperson. Zunächst las er aus dem Matthäus-Evangelium, dann aus dem Roman „Judas“ von Amos Oz. Und schließlich intonierte er emotional und hingebungsvoll einen Text von Walter Jens – auswendig, wie er gerne und mit Nachdruck betont: „Dass ich mir vorgenommen habe, den Judas-Text frei zu sprechen, das ist ein ganz schöner Hammer.“

Der eigentliche Hammer jedoch folgte im Anschluss an das Stück, dem die andächtigen Zuschauer zwar keine Ovationen schenkten, wohl aber Respekt und Anerkennung in Form von lang anhaltendem Applaus. Ben Becker kam zurück auf die Bühne, durch einen Eingang hinten links im Eck, schlurfte wie zuvor schon missmutig dreinschauend die Treppen hoch und stellte sich an das Pult, wo er vorhin noch den Judas am Tag vor der Kreuzigung sprechen ließ. Nun war es so, als würde er selbst diese Rolle einnehmen: „Normalerweise spiele ich dieses Stück in Kirchen oder in schönen Theatern“, sagte er und ließ seinen Blick durch das Bodenseeforum wandern, während seine Arme durch die Luft fuchtelten.

Unter den offiziell 600 Zuschauern war an dieser Stelle hier und da ein erstes Lachen zu vernehmen. „Aber jetzt hier in dieser Mehrzweckhalle“, fügte er hinzu. Viele Zuschauer erhoben sich lachend und spendeten lauten Applaus. „Aber wisst Ihr was: Schön, dass Ihr trotzdem da wart und mir geht’s am Allerwertesten vorbei.“ Er schüttelte lächelnd den Kopf, versuchte das klerikale Bühnenbild zu erklären, das im Bodenseeforum so deplatziert wirkte wie ein Justin-Bieber-Poster im Louvre neben der Mona Lisa. "Die machen hier sonst ganz anderes Zeugs, wartet erst einmal ab, wenn das Licht angeht, da fliegt Euch eins aus der Hose.

" Als müsste er den Menschen erklären, warum er den Judas gerade hier spielen würde, verlautbarte er: "Mein Schornstein muss ja auch rauchen und meine Tochter hat ein Pferd." Was übersetzt ungefähr so viel bedeutet wie: Ich spiele sogar in diesem Haus, wenn ich denn mit der Gage mein Leben finanzieren kann. Und dann verabschiedete sich der Meister mit diesen Sätzen: "Aber in Ordnung. Es hat Spaß gemacht mit Euch. Immerhin seid Ihr schön."

Friedhelm Schaal, temporärer Geschäftsführer des Tagungs- und Kongresshauses am Seerhein, hört diese Wort gar nicht gerne: "Wir wissen ja, dass Ben Becker ein sehr exaltierter Schauspieler ist", sagt er. "Sein Management hat komischerweise gesagt, wie toll das Bodenseeforum sei und wie gerne sie hier wären mit dem Stück." Besonders seltsam fand Friedhelm Schaal die Bemerkung Beckers, dass er das Pferd seiner Tochter mit solchen Auftritten finanzieren müsse: "Das war in meinen Augen fehl am Platz, das kann ich nicht nachvollziehen." Überhaupt habe er den Eindruck, "dass wir im Bodenseeforum ein tolles Publikum haben, das euphorischer ist als sonst üblich in Konstanz". Ob er als Gastgeber Ben Becker nach diesem verbalen Abgang überhaupt noch einmal im Haus begrüßen möchte? "Das weiß ich nicht", sagt Friedhelm Schaal. "Darüber müssen wir noch nachdenken." Überhaupt war er nicht unbedingt angetan vom Komplettpaket des Schauspielers. "Er kam am Nachmittag und ist direkt nach dem Auftritt wieder wortlos entfleucht." Das sonst so übliche repektvolle Schwätzchen mit den Mitarbeitern der Gastgeber fiel offenbar komplett aus.

Ein Blick auf den Tourplan zeigt in der Tat: "Ich, Judas" wird in aller Regel in Gotteshäusern oder eben in Theatern gespielt, deren Bühnen nach dem Umbau ein entsprechendes klerikales Ambiente versprühen. Der Konstanzer Münsterchordirektor Steffen Schreyer hätte sich gefreut, wenn es eine Anfrage von Beckers Management gegeben hätte: "Wir haben schon mit Klaus-Maria Brandauer oder Barbara Auer zusammengearbeitet", erzählt er. "Da hätten wir auch gerne Ben Becker im Münster gehabt." Er versichert jedoch, dass es keine entsprechende Anfrage gegeben hat. Allerdings schränkt er auch etwas ein: "Wir sind kein Konzerthaus, sondern eine Kirche. Und solche Konzerte sind immer mit viel Arbeit und mit Kosten verbunden."

Ben Becker: Ich, Judas

Der Skandalschauspieler bringt den kontroversen Text von Walter Jens über die Verteidigungsrede des Judas Ischariot auf die Bühne. Judas, der Jünger Jesu, der Gottes Sohn verrät und ans Kreuz liefert. Die Geschichte des Sündenbocks ist falsch. „Was war denn zu verraten“, fragt Judas, „Jesus‘ Aufenthaltsort? Den kannten Tausende. Sein Großes Geheimnis, dass er Gottes Sohn sei? Das hat er selbst gesagt. Ohne Judas kein Kreuz. Ohne Kreuz keine Kirche. Ohne Kirche keine Überlieferung." Judas sieht sich nicht als Verräter, sondern als Erfüller eines göttlichen Plans, als zweiter Messias.