Phase 1: Die Überrumpelung
Für Peter Müller ist es ein Tag wie jeder andere. Argwohn ist dem Konstanzer fremd. So auch an diesem frühen Dienstagnachmittag, als er sich zu Fuß auf dem Weg zu seiner Garage befindet, gerade einmal 50 Meter entfernt von seinem Wohnhaus in Konstanz.
Plötzlich hält ein weißer Mittelklassewagen mit italienischem Kennzeichen neben Müller, der Fahrer, ein Mann mit schwarzem Haar, lässt das Fenster herunter: "Du bist doch mein ehemaliger Arbeitskollege?", dringt es in gebrochenem Deutsch heraus.
Die beiden Männer kommen ins Gespräch. "Wo genau hast du noch mal gearbeitet?", fragt der Unbekannte. Unbedarft nennt Müller, seit über zwei Jahrzehnten in Pension, seinen letzten Arbeitgeber. "Genau, dort war ich Lagerist!", sagt der Mann.
Heidrun Angele: "Bei der Masche, zu der dieser Fall gehört, werden gezielt ältere Männer auf offener Straße angesprochen. Die Kriminellen können gut erkennen, ob das Opfer allein unterwegs ist, um ungehindert Einfluss nehmen zu können. Sie geben sich als ehemalige Arbeitskollegen, Nachbarn oder Freunde aus. Ziel ist es, ein Vertrauensverhältnis zum Opfer aufzubauen. Hierbei wird auch der Umstand genutzt, dass sich das Opfer schon längere Zeit in Rente befindet und sich oft nicht mehr ganz konkret erinnern kann. Mit psychologisch geschickter Fragetechnik und Überrumpelungstaktik entlockt ihm der Betrüger Anknüpfungspunkte, hier den Arbeitgeber. Darauf kann der Betrüger gezielt aufbauen und somit verhindern, dass das Opfer misstrauisch wird."
Hinter der Geschichte
Phase 2: Das Vertrauen
Der vermeintliche frühere Kollege, den Müller später als etwa 50 Jahre alt und rund 1,80 Meter groß beschreiben wird, erzählt von seinem heutigen Leben: "In Rimini, Italien, habe ich gemeinsam mit meiner Frau einen kleinen Modeladen", sagt er. Aus geschäftlichen Gründen sei er wieder in Deutschland, müsse jedoch noch heute von Zürich aus zurück nach Italien fliegen. "Weil meine Frau Geburtstag hat", lautet die Begründung.
Der Kofferraum seines Wagens, so fährt der Betrüger fort, sei voller kostbarer Ware. Klamotten, die er wegen zollrechtlicher Bestimmungen nicht mit zurück nach Italien nehmen könne. "Zu teuer", begründet er knapp. Deswegen bietet er an, Müller die Jacken zu schenken, sechs Stück an der Zahl. "Du kannst sie ja bei dir zu Hause anprobieren!", schlägt er schließlich vor. Müller zögert zunächst – und steigt dann doch in das Auto des Mannes.
Gemeinsam fahren sie zum nahe gelegenen Haus, in dem Müller gemeinsam mit Frau, Tochter und den Enkelkindern lebt.
Angele:"Die Betrüger erschleichen sich systematisch das Vertrauen ihres Gegenübers, indem sie persönliche Geschichten einflechten. Zudem setzen sie ihr Opfer gezielt unter Zeitdruck und nutzen dessen Hilfsbereitschaft aus. Dem Opfer fällt es nun immer schwerer, Nein zu sagen, zumal der Täter auch noch ein Geschenk anbietet. Die Hemmschwelle also, sich in das Auto des Täters zu setzen und ihn mit nach Hause zu nehmen, sinkt."
Phase 3: Die Ablenkung
In der Wohnung angekommen, holt der Betrüger sechs Jacken aus einer Reisetasche, darunter vermeintliche Fabrikate von Gerry Weber, Abercrombie & Fitch, Emporio Fashion. "Alles teure Markenprodukte", betont der Fremde stolz. "Diese hier ist sogar 7000 Euro Wert". Der Betrüger deutet auf eine hellbraune Jacke, dem Anschein nach aus Wildleder und Tierpelz.
Die Müllers – Vater, Mutter, Tochter – machen die Probe. Der Mann scherzt, ist freundlich und zuvorkommend. Keiner der Anwesenden schöpft Verdacht, alle finden Gefallen an den Jacken.
Der Mann führt das Gesprächsthema zurück auf seine in Italien lebende Frau. Eine teure Rolex möchte er ihr als Geburtstagsgeschenk kaufen, erzählt er. In der rechten Hand wedelt der Mann nun mit einem mageren Bündel Geld: "Das hier reicht allerdings nicht", sagt er lachend – und fragt, ob die Familie nicht etwas dazugeben möchte.
Die Verhandlung beginnt. Müller und der Mann einigen sich auf 1000 Euro für sechs Jacken, "eigentlich weitaus mehr wert", betont der Betrüger wieder. Ein gutes Geschäft, denkt der 84-jährige Peter Müller – noch.
Angele: "Der Betrüger lenkt sein Opfer geschickt ab und setzt es mit den privaten Erzählungen und dem Aufbau einer freundschaftlichen Basis unter Zugzwang. Das Opfer ist dann eher bereit für einen Freundschaftsdienst und bleibt im Glauben, sich und dem Betrüger etwas Gutes zu tun. Er betont, dass es sich um Markenprodukte handelt. Und das Opfer vertraut ihm. Die Qualität der angebotenen Ware wird durch das vom Täter geschickt aufgebaute Vertrauen nicht überprüft oder in Frage gestellt. Die Betrüger bieten bei dieser Masche jedoch immer minderwertige Imitate an."
Phase 4: Die Bezahlung
Weil Peter Müller zu Hause nicht so viel Bargeld aufbewahrt, fahren er und der Mann in dessen Wagen zu einem nahegelegenen Geldautomaten. Auf dem Weg dorthin versucht der Betrüger noch nachzuverhandeln. 1500 Euro nennt er nun als Preis. Doch Müller bleibt hart. "Mehr als 1000 Euro kann ich an einem Tag sowieso nicht abheben", wendet er ein. Ein Argument, das zieht. Der Betrüger gibt nach.
In der Nähe des Geldautomaten angekommen, springt Peter Müller aus dem Wagen. Der Fahrer wartet, sichtlich nervös. Denn parken muss er sein Auto in einer Sackgasse – ohne Fluchtweg. Müller aber hegt weiterhin keinerlei Verdacht. Zügig kehrt er mit dem Geld zurück und überreicht es dem vermeintlichen ehemaligen Kollegen.
Der hat es nun urplötzlich besonders eilig, fährt Müller zügig nach Hause und verschwindet mit der Begründung, er müsse zum Zürcher Flughafen.
Angele: "Es ist nicht untypisch, dass die Betrüger versuchen, den Preis zu erhöhen. Oftmals werden hierbei die Opfer unter Druck dazu gebracht, auch höhere Summen zu bezahlen. Grundsätzlich wissen die Betrüger, dass Senioren mitunter unbedarfter, gutgläubiger und hilfsbereiter sind. Das ist auch eine Sache der Erziehung. Das Perfide: Diese Eigenschaften nutzen die kriminellen Gruppen skrupellos aus. Zuletzt immer wieder auch als falsche Polizeibeamte."
Phase 5: Die Erleuchtung
Als Peter Müller zu Hause ankommt, gerät er nach und nach ins Grübeln. Die Selbstzweifel, ob sein Handeln richtig war, mehren sich. Er recherchiert im Internet – und wird schnell fündig: Betrüger legten mit dieser Masche in der Vergangenheit immer wieder unbedarfte Senioren rein.
Er geht zur Polizei, erstattet Anzeige gegen Unbekannt. Die Beamten reagieren mit Verständnis, können aber nicht sicher sagen, ob es sich bei den Jacken um Fälschungen handelt.
Sie schicken Müller in ein Konstanzer Modegeschäft, dessen Fabrikat ihm der Betrüger untergejubelt hatte. Doch statt Hilfe bekommt Müller hier nur Vorwürfe an den Kopf geschmettert: Kriminelle unterstützen würde er, wenn er solche Hehlerware kaufe. Verärgert verlässt der Rentner den Laden wieder.
Für ihn geht ein Tag zu Ende, der gewöhnlich begann und nun mit großem Ärger schließt.