Es hätte das Jahr ihres Leben werden können: Das letzte Jahr in der Schule für Elena Gnann und Fabian Arnz. Mit einer Abschlussfahrt und einer rauschenden Abifeier am Ende des Schuljahres. Und dann wollten sie einfach weg: „Ich wollte reisen“, sagt Elena Gnann. „für ein paar Monate raus aus in die Welt.“ Und: „Ich will nicht sofort studieren“, sagt Fabian Arnz. Der 17-Jährige Schüler des Friedrich Hecker-Gymnasiums hat ein Freiwilliges Soziales Jahr oder ein Work-and-Travel-Programm im Kopf. Eigentlich.
Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit
Denn: Die Zeit nach der Schule, das Aufbrechen und Ausprobieren, das war einmal. In einer Zeit vor Corona. „Reisen werde ich wohl nicht“, sagt Elena Gnann. In ihrer Stimme ist Wehmut zu hören. Seit dem Frühjahr zwingt die Krise ihr gesamtes soziales Leben in die Knie.
Wann sie das letzte Mal Freunde getroffen hat? „In der Schule vor dem Lockdown im Dezember“, sagt die 19-Jährige, die in Stockach auf das Wirtschaftsgymnasium des Berufsschulzentrums geht, in einer Videokonferenz. Auch Fabian Arnz hat sich dem Gespräch zugeschaltet.
Ein bisschen müde sind die beiden. Weil sie schon den ganzen Tag auf ihren Laptop starren. Acht Stunden Online-Unterricht liegen hinter ihnen. Mit dem SÜDKURIER wollen sie trotzdem sprechen und der Jugend eine Stimme geben. Denn für sie bedeute die Pandemie auch, dass Dinge wegfallen, die ihre Jugend eigentlich ausmachen. Vor allem seien sie mittlerweile genervt und frustriert. „Dass es Einschränkungen gibt, verstehen wir natürlich. Aber Corona scheint kein Ende zu nehmen. Das fühlt sich an wie eine Ewigkeit“, sagt Arnz.
Lost: Das Jugendwort 2020
Wenn der 17-Jährige von seinem Alltag in der Pandemie erzählt, nutzt er die Worte „Leere“ und „lost“, um die Funkstille, dieses Vakuum ohne andere Leute, ohne Hobbys, zu beschreiben. „Am Anfang im Frühjahr fand ich‘s noch geil. Keine Schule, das sei wie Ferien, dachte ich. Und dann ist alles weggebrochen“, sagt Arnz. Wo er früher stundenlang auf dem Tennisplatz spielte und sich mit Freunden am See traf, blieb ein Gefühl von Leere zurück. Tage ohne Struktur. Und ohne besondere Ereignisse.

Dass „lost“ – zu Deutsch: sich verloren fühlen – zum Jugendwort 2020 gewählt wurde, passt, sagt Fabian. „Es ist das erste Jugendwort, das wir wirklich nutzen. Und ganz ehrlich, wenn einem langweilig ist, fühlt man sich echt verloren.“
An manchen Tagen will sich Elena im Bett verkriechen
Auch Elena Gnann macht die Pandemie und besonders die fehlende Trennung zwischen Privat- und Schulleben zu schaffen. Immer in der Wohnung, immer am Schreibtisch zu sein – und dazu noch allein – sei belastend. „Manchmal habe ich Tage, an denen ich aufstehe und nur wieder ins Bett will“, sagt sie. Oder: „Nach acht Stunden Online-Unterricht bin ich total kaputt und lege mich oft nachmittags wieder schlafen. Manchmal stecke ich auch in einem totalen Motivationsloch und habe keine Lust mehr, überhaupt etwas zu tun.“
Um nicht noch tiefer im Loch zu versinken, schreibt sich Gnann einen Tagesplan. Aufstehen 7.30 Uhr, dann Frühstück und Schulsachen, dazwischen, wo früher die Schulpausen lagen, kurze Telefonate mit ihren Freundinnen. Und nach der Schule, wo sie früher Handball spielte, kleine Spaziergänge durch Radolfzell.
Video-Treffen gegen die Einsamkeit
Was sonst noch hilft gegen den Corona-Blues? „Mit meinen Freundinnen mache ich einmal die Woche ein Zoom-Meeting, wir sind dann sechs Mädels und quatschen bei einem Glas Wein“, sagt Elena Gnann. Dadurch lasse sich die Isolation ein wenig kompensieren, auch wenn das kein hundertprozentiger Ersatz für ein echtes Treffen sei. Gemeinsam spreche man virtuell über das, was einen umtreibe, die Schule, Corona – und natürlich auch über die kleinen Oberflächlichkeiten des Lebens, über Filme, Jungs, die Familie. Und die neuen und alten Hobbys.

Beide, Fabian und Elena, haben im vergangenen Jahr viel nachgedacht, über Corona, Politik, die Gesellschaft – und auch über sich selbst. „Ich habe mich oft gefragt, was ich kann, was ich will, wie ich mich in die Gesellschaft einbringen und man sich gegenseitig unterstützen kann“, sagt Fabian Arnz.
Der Lockdown im Frühjahr
Und beide erinnern sich noch gut an den Lockdown im Frühjahr, als das Leben das erste Mal stillstand und Corona plötzlich gar nicht mehr so weit weg war. „Ich habe in den Nachrichten gesehen, wie die Infektionszahlen größer wurden, aber so richtig fassen konnte ich es erst, als die Schule geschlossen hat“, sagt Elena. Das war an einem Montag im März.

Sie weiß noch, wie sie im Klassenzimmer saß, die stellvertretende Direktorin hereingeeilt kam, die Verordnung des Landes vorlas und die Schüler nach Hause schickte. Elena habe sich in diesem Moment wie betäubt gefühlt. Ganz so, als würde das gerade nicht wirklich passieren. „Mit meinen Klassenkameraden stand ich in Stockach noch eine Stunde am Bahnhof, weil wir so einen Redebedarf hatten und nicht wussten, wie es jetzt weitergeht.“
Auf das Abitur vorbereitet?
Rückblickend überrascht es Elena, dass das Virus ihr keine Angst gemacht habe. „Ich hatte nur Sorge, andere anzustecken.“ Deshalb sei die 19-Jährige auch zuhause geblieben und habe sich zurückgenommen. Doch: Die Schule lief weiter. Anfangs per Mail. Sowohl Elena wie auch Fabian berichten, von zugeschickten Aufgaben, die es zwar zu bearbeiten galt, aber zu den sie niemals ein Feedback bekommen hätten.
Das Gefühl, dass nichts hängen geblieben ist
Und jetzt, gut ein Dreivierteljahr später, sitzen sie wieder im Online-Unterricht. Fühlt man sich so überhaupt auf das Abitur vorbereitet? „Laut unseren Lehrern liegen wir gut im Zeitplan“, sagt Elena Gnann. Sie sieht das Ganze aber etwas anders: „Bei vielen Themen aus dem Frühjahr habe ich das Gefühl, dass nichts hängen geblieben ist. Vor dem Abitur muss ich mir das nochmal aneignen.“
Auch Fabian Arnz sagt: „Man spürt den Unterschied zum Präsenzunterricht.“ In den naturwissenschaftlichen Fächern müsse er sich vieles selbst erarbeiten. Er fragt sich, warum man die Jugendlichen bei wichtigen Entscheidungen – wie der Umstellung auf Online-Unterricht oder dem Verschieben von Klausuren – nicht mit einbezieht. „Uns fragt niemand, wie es uns damit geht. Oft erfahren wir die Entscheidung erst kurzfristig.“
Die Jugend wird nicht gehört
Dieses hin- und her, das nerve, sagt Fabian Arnz. Nicht nur beim Thema Schule. Auch von der Politik hätte er sich deutlich früher einen härteren Lockdown gewünscht. „Wenn ein Großteil des Jahres alle zur Schule, zur Arbeit gehen und den öffentlichen Nahverkehr nutzen, ist klar, dass die Zahlen nicht sinken.“
Bei solche Debatten um die richtige Corona-Politik fühlen sich die Jugendlichen weder gesehen noch gehört. „Eigentlich werden wir auf unsere Rollen als Schüler und Abiturienten reduziert“, sagt Elena. Und eigentlich „sprechen über uns nur andere: Lehrer, Eltern, Politiker“, sagt Fabian. Die Stimme der Jugendlichen spiele im öffentlichen Diskurs keine Rolle.
Gerade deshalb ist den beiden das Gespräch mit dem SÜDKURIER so wichtig. Gerade deshalb sitzen sie auch nach Stunden des Online-Unterrichts noch vor ihren Laptops in einer Videokonferenz.