Es war ein wiederkehrendes Phänomen in diesem Sommer am Untersee: Immer wieder gab es Meldungen über Exhibitionisten in Radolfzell und auf der Höri, die ahnungslosen Frauen auflauerten und ihnen ihr entblößtes Glied zeigten. Zwischen April und August meldete die Polizei insgesamt acht solcher Fälle, vier davon in Radolfzell, vier auf der Höri.
Doch warum machen das Männer eigentlich, sich vor fremden Frauen entblößen und sich dabei befriedigen? Eine Frage, die auch Jan Bulla, medizinischer Direktor der Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie am Zentrum für Psychiatrie Reichenau, nicht so einfach beantworten kann.
Der Tathergang ist fast immer gleich
Der Ablauf der Taten wurde immer gleich beschrieben: Frauen – die jüngste elf Jahre, die älteste 71 Jahre alt – gingen einer Tätigkeit nach, sie fuhren mit dem Rad, spazierten, schwammen im See oder pflückten Obst, und wurden dabei von einem unbekannten Mann überrascht, der sich vor ihnen entblößte und sich selbst an seinem Glied berührte.
Manchmal sprach er sein Opfer an, machte anzügliche Angebote oder Aufforderungen, manchmal nicht. Fassen konnte die Polizei bisher einen Tatverdächtigen. Dies allerdings schon im Mai, bis Ende August gab es aber weitere Fälle. Die Polizei ging damals schon davon aus, dass es sich um mehrere Täter handeln müsse.
Was laut Psychiater dahinter stecken kann
„Die Beweggründe eines Exhibitionisten können sehr unterschiedlich sein“, so Jan Bulla, der auch Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit Schwerpunkt Forensische Psychiatrie ist.
Nicht immer stecke sexuelle Erregung beim Anblick der Opfer hinter diesen Taten. Die Beweggründe würden teils auf psychische Störungen hinweisen und nicht selten sei der Exhibitionismus nur eine Verhaltensauffälligkeit von vielen. Dieses Verhalten könnte Teil einer Zwangshandlung sein, bei der der Betroffene einen inneren Drang verspüre, sich entblößen zu müssen.
Oder für den Täter könnte es eine sexuelle Fantasie darstellen, bei der er der festen Überzeugung sei, es würde die Frauen ebenfalls erregen, wenn sie sein erigiertes Glied erblicken. Hier bestehe die Hoffnung und das Ziel des Täters, nach dem Entblößen einvernehmlichen Sex mit dem Opfer herbeizuführen, erläutert der Facharzt für Psychiatrie.
Doch genauso könnte ein tief liegendes Problem mit Frauen, wenn nicht sogar ein Hass auf Frauen, vorliegen. „Wenn der Schockmoment der Frau der Kern der sexuellen Anziehung ist, könnte das ein Grund sein“, erklärt Jan Bulla. Das bedeutet, dass das Entsetzen und Erschrecken der Frauen das ist, was der Täter mit seinem Verhalten erreichen will, weil ihn dieses selbst erregt.
Eine Form von Rache an Frauen
Auch könnte hinter dem Wunsch, Frauen durch dieses sexuell übergriffige und aggressive Verhalten zu demütigen, eine Form von Rache stecken. „Es kann eine eigene erfahrene Demütigung aus der Kindheit sein“, so Bulla. Und die Opfer stünden stellvertretend für die Verantwortlichen der erlebten Demütigung, über die man so triumphieren möchte. Nicht selten sei es die Mutter, gegen die Männer durch dieses Verhalten aufbegehren wollten.
Dabei sei das Entblößen des Geschlechtsteils eine Demonstration von Macht. „Man hat sich in der Situation damals machtlos gefühlt, und nun ergreift man die Macht selbst“, versucht der forensische Psychiater zu erklären. Manchmal seien auch Medikamente für solch ein Verhalten verantwortlich. „Die Frage nach dem Warum ist also höchst individuell zu beantworten“, fasst Jan Bulla zusammen.
Was die Forschung dazu sagt
So vielschichtig die Beweggründe sein können, so dünn ist die eigentliche Forschungslage bei Exhibitionismus. In den 1970er- und 1980er-Jahren habe man intensiver dazu geforscht, doch aktuell spiele es in der Fachmedizin keine große Rolle mehr. Exhibitionisten würden auch in den forensischen Fachkliniken nicht vorstellig werden.
Die Täter dieser gemeldeten Straftaten würden nur selten in den geschlossenen Einrichtungen eingewiesen. Denn laut Strafgesetzbuch wird ein „Mann, der eine andere Person durch eine exhibitionistische Handlung belästigt, mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft“.
Für eine dauerhafte Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung ist dieser Straftatbestand nicht ausreichend. Die Männer mit exhibitionistischen Neigungen, die bei Bulla im Zentrum für Psychiatrie ankommen, hätten noch eine Vielzahl anderer Störungen, die schwerer wiegen würden als der Exhibitionismus. Dies sei dann eher eine Randerscheinung.
Ein Täter hat wahrscheinlich viele Opfer
Und handelt es sich bei den Fällen in Radolfzell und der Höri um einen oder um mehrere Täter? Eine Frage, die der Experte unmöglich beantworten kann. Doch bringt Psychiater Jan Bulla eine Studie aus den USA ins Gespräch, bei der es um Sexualdelikte in der New Yorker U-Bahn geht.
Die Zahl der Männer, die bei den Befragungen dieses abweichende Verhalten zugegeben hatten, war erwartungsgemäß äußerst gering. Es sei schließlich auch ein sehr schambehaftet. „Von den befragten Frauen hingegen hatten fast 50 Prozent schon mal eine Begegnung mit einem Exhibitionisten“, so Bulla. Dass ein Täter nur ein Opfer habe, sei nicht gerade wahrscheinlich.