Man stelle sich ein Heer von Menschen vor, die im Zuge der digitalen Revolution ihre Arbeit verlieren. Die Effizienzsteigerung werde massenhaft Jobs vernichten, sagt der Philosoph Richard David Precht. Dann brauchten die Menschen gute Pläne für den Tag und eine starke Motivation, ihrem Tun einen Sinn zu verleihen. "Der Sinn von Bildung ist es, möglichst vielen Menschen zu einem erfüllten Leben zu verhelfen", sagt Precht vor 820 Zuhörern in der Singener Stadthalle. Sie wollen von ihm wissen, wie Bildung nachhaltiger wirken kann. Überhaupt ging es beim jüngsten Wirtschaftsforum um Nachhaltigkeit, im Umgang mit natürlichen Ressouren, mit der Arbeitskraft, mit Energie, von Produkten und eben auch von Bildung. Konkret lautet die Frage: Welche Inhalte, die in der Schule vermittelt werden, bleiben länger hängen als bis zur Prüfung?

Richard David Precht ist den meisten im Saal bekannt. Er philosophiert nicht im stillen Kämmerlein, sondern füllt mit seinen Lebensweisheiten locker eine nackte Bühne aus. Mit seinen Thesen, die er häufig mit praktischen Beispielen aus dem Schulalltag seines Sohnes oder einem fiktiven Jungen namens Hassan unterlegt, bringt er so manches Lehrerkollegium ins Grübeln. Und genau das will er, wenn er die klassische Form der Wissensvermittlung und die Aufteilung der Inhalte in Fächer kritisiert. Die Lehrpläne seien überfrachtet, die Methoden und die Qualität der Lehrer dazu angetan, den jungen Menschen bis zum Ende ihrer Schulzeit die Neugier zu rauben. Um für eine Sache zu brennen, müsse Freude im Spiel sein, die sogenannte intrinsische Motivation. Nur dann könne man Inhalte länger merken.

 

Precht kritisiert das Schulsystem

 

Vielen Eltern und noch mehr Schülern spricht der erfolgreiche Philosoph und Autor aus der Seele. Der Beifall in der Stadthalle untermauert das. Die Lehrerkritik würden viele unterschreiben. Doch Precht kritisiert nicht die Lehrer, sondern das Schulsystem. "Lehrer haben es heute viel schwerer, die Aufmerksamkeit der Kinder zu erlangen. Sie müssen Darstellungs- und Vermittlungskünstler sein. Sie müssen zeigen, wofür sie brennen", sagt er. Das sollen sie unter Beweis stellen, bevor sie auf die Kinder losgelassen werden. Hier kommen die Praktiker aus Industrie und Handwerk ins Spiel, wie es sie zum Beispiel in der Hohentwiel-Gewerbeschule gibt. Wenn ein Lehrer mit den Kfz-Mechatronik-Schülern seinen Kopf in den Motorraum eines Audi Q7 steckt, schafft das Beziehung.

In der Diskussion, geleitet von den SÜDKURIER-Redakteuren Torsten Lucht und Johannes Bruggaier, untermauerte der Leiter der Gewerbeschule, Stefan Fehrenbach, die Forderungen Prechts. Schulleiterin Kerstin Schuldt vom Hegau-Gymnasium verteidigte dagegen das klassische, allgemeinbildende Lernangebot. "Die Frage nach dem Nutzen für die Wirtschaft stellen wir ganz nach hinten", sagte sie. Hier kam Antje von Dewitz, Vaude-Chefin, mit ihrer Kritik am klassischen Bildungssystem ins Spiel. "In unserem Betrieb stecken wir sehr viel Energie in die Beziehungsarbeit. Weiche Faktoren, wie Teamfähigkeit, eine Kultur auf Augenhöhe, sind Voraussetzung für Kreativität." Der Weg dahin ist offenbar noch weit. "Die Umkehr findet nur unter extremem Leidensdruck statt", ist Precht überzeugt. Dafür bedürfe es eine Katastrophe, wie der oben angesprochenen Massenarbeitslosigkeit.

 

Podiumsdiskussion

Auf Augenhöhe mit den Stars diskutieren, das war die Einladung an das Publikum in der ausverkauften Singener Stadthalle, die reichlich genutzt wurde. Statt ein Mikrofon im Saal herumzureichen, durften die Besucher auf die Bühne kommen, in einer zweiten Stuhlreihe hinter den Hauptakteuren des Abends Platz nehmen und nach und nach in die Runde einsteigen. Diese neue Form der Podiumsdiskussion hatte sich Reinhold Maier von Singen Congress ausgedacht. Umgesetzt wurde das Experiment sehr erfolgreich von den beiden SÜDKURIER-Redakteuren Johannes Bruggaier (Kultur) und Torsten Lucht (Leiter der Singener Lokalredaktion), die den Abend mit dem Philosophen Richard David Precht und der Unternehmenschefin von Vaude, Antje von Dewitz moderierten. (gtr)