Bundesweit hat die Corona-Pandemie zu einer Über­sterblich­keit geführt, wie die statistischen Landesämter ebenso beobachten, wie das Bundesamt Destatis. Erhöhte Sterbefallzahlen waren von Anfang September 2021 bis Anfang Januar 2022 zu beobachten.

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Auch im Hegau sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache: Um nahezu 25 Prozent mehr Todesfälle pro Jahr sind in der Region laut Statistik seit Ausbruch der Corona-Pandemie zu verzeichnen. Dies ist das Ergebnis einer SÜDKURIER-Umfrage bei den Standesämtern der großen Gemeinden im Hegau (siehe Grafik). Eine Ausnahme bildet Gottmadingen, wo der Corona-Sprung in den Zahlen nicht ablesbar ist. Gottmadingens Bürgermeister Michael Klinger hegt Zweifel an der Aussagekraft: „Wie groß die Schwankungsbreite über die vorliegenden Zahlen hinaus ist, lässt sich nicht ablesen“, mag er nicht an eine besonders robuste Art der Gottmadinger glauben.

„Wie groß die Schwankungsbreite über die vorliegenden Zahlen hinaus ist, lässt sich nicht ablesen.“Michael Klinger, ...
„Wie groß die Schwankungsbreite über die vorliegenden Zahlen hinaus ist, lässt sich nicht ablesen.“Michael Klinger, Bürgermeister | Bild: Trautmann, Gudrun

Weniger eindeutig sind die Gründe dieses Anstiegs, wie Andrea Jagode als Pressesprecherin des Gesundheitsverbundes im Landkreis Konstanz zu Bedenken gibt. „Wir wissen, dass es nicht so viele Todesfälle gibt, die direkt mit einer Covid-Infektion zusammenhängen“, erklärt sie. Fehlende Daten vermisst auch die Singener Hausärztin Birgit Kloos. „Eine detailliert aufgeschlüsselte Statistik für die Todesursachen fehlt“, erklärt sie angesichts der Zahlen. Klar sei, dass die Ursachen vielfältig sein dürften, denn das Virus wirke auch mittelbar, wie die Mediziner landauf landab bemerken müssen: Verschleppte Herzinfarkte wegen der Angst vor einer Corona-Ansteckung seien zu Beginn der Pandemie ein großes Problem gewesen: „Mit Herzschmerzen ist nicht zu scherzen“, warnte schon damals Marc Kollum als Chefarzt der Singener Kardiologie. Zu oft seien Menschen bei einem Herzinfarkt zu spät in die Klinik gekommen. Dabei weiß der Experte, dass bei einem Herzinfarkt jede Minute zähle: „Wer aus Angst vor einer Corona-Infektion zögert, den Notarzt zu rufen, riskiert sein Leben“, warnt er. Eine Aufklärungskampagne zeige aber bereits Früchte. „Keiner muss in der Klinik Angst haben, sich mit Corona anzustecken“, verweist er auf strenge Sicherheitsvorkehrungen und Hygienemaßnahmen. Patienten mit Verdacht auf Covid19 würden streng von nicht infizierten Patienten getrennt werden.

„Wir wissen, dass es nicht so viele Todesfälle gibt, die direkt mit einer Covid-Infektion zusammenhängen.“Andrea Jagode, ...
„Wir wissen, dass es nicht so viele Todesfälle gibt, die direkt mit einer Covid-Infektion zusammenhängen.“Andrea Jagode, Klinik-Sprecherin

Die Beobachtung, dass Patienten den notwendigen Gang zum Mediziner Corona-bedingt aufschieben, kann die Singener Medizinerin Birgit Kloos als Vertreterin der niedergelassenen Ärzte im Hegau bestätigen. „Häufig sind auch Vorsorgeuntersuchungen unterblieben, weil Patienten Sorge hatten, sich in den Artpraxen einem erhöhten Risiko auszusetzen“, erklärt sie. Vor allem im Jahr 2020 hätten die Ärzte eine rückläufige Zahl an Vorsorgeterminen in ihren Praxen feststellen müssen. Und wenn Symptome dann so schmerzhaft geworden sind, dass der Arztbesuch nicht mehr aufgeschoben wurde, sei es leider oft zu spät gewesen. Ein Thema, das vor allem Krebspatienten zu schaffen gemacht habe.

Bild 3: Mehr Todesfälle während Corona-Zeit
Bild: Schönlein, Ute

Kardiologe Kollum macht deshalb auch für die Kollegen der anderen Fachrichtungen eindringlich klar, dass es tödlicher Leichtsinn sei, wenn Betroffene erst einmal abwarten, ob Beschwerden abklingen. Sein Kollege Christof Klötzsch, Chefarzt der Neurologie am Singener Klinikum, hat ebenfalls eine auffällig gesunkene Zahl an Patienten mit flüchtigen Schlaganfallsymptomen oder leichten Schlaganfällen beobachtet: „Eigentlich eine gute Nachricht, doch die Vermutung liegt nahe, dass nicht etwa weniger Menschen einen Schlaganfall erleiden, sondern viele aus Angst vor einer Infektion mit dem Corona-Virus trotz deutlicher Symptome nicht ins Krankenhaus gehen.“ Das sei fatal, warnt Klötzsch und appelliert an Betroffene, mit dem Gang zum Arzt nicht zu zögern.

Birgit Kloos, Allgemeinmedizinerin: „Wenn wir hier genügend Personal finden, dann können wir Öffnungszeiten anbieten, die eine ...
Birgit Kloos, Allgemeinmedizinerin: „Wenn wir hier genügend Personal finden, dann können wir Öffnungszeiten anbieten, die eine Einzelpraxis nicht leisten kann.“ | Bild: SK

Inzwischen habe sich die Zahl verschleppter Krankheitsverläufe aufgrund der intensiven Öffentlichkeitsarbeit zwar reduziert. „Aber auch dieses Symptom zeigt, wie wichtig die Impfkampagne ist“, betont Kloos. Nicht nur für die persönliche Gesundheit sei der Piks in den Oberarm relevant, sondern vor allem für das gesamte Gesundheitssystem. „Es würde vielen Menschen die Sorge nehmen, sich zu infizieren“, ruft Kloos unentschlossene auf, sich doch noch impfen zu lassen. Klinik-Sprecherin Jagode ergänzt: „Wir sehen auf der Intensivstation, dass die Omikron-Variante vor allem Ungeimpfte heftig erwischt.“ Doch nicht jeder Patient legt Wert auf intensivmedizinische Betreuung. Auch deshalb hätten die Hausärzte frühzeitig mit betagten Patienten und deren Angehörigen das Gespräch gesucht, welchen Behandlungsweg sich Heimbewohner letztlich wünschten. Nicht jeder 100-Jährige beharre darauf, dass sein Leben mit allen Mitteln gerettet werden müsse und manchem wäre es lieber, das Lebensende im gewohnten Umfeld zu erleben. Doch solche Gespräche hätten viel Fingerspitzengefühl erfordert. „Dieser Versuch, unnötige Einweisungen Hochbetagter zu vermeiden, muss in einem sehr individuellen Kontext betrachtet werden“, berichtet Kloos von heiklen Gesprächen.

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Blick auf die Schwierigkeit, die Statistik der Standesämter in Zahlen zu fassen

  • In Singen sind in den Jahren vor Ausbruch des Corona-Virus jedes Jahr über 800 Menschen gestorben. Aber nur etwa die Hälfte davon waren Singener. Dafür gibt es laut Pressestelle der Stadtverwaltung zwei Gründe: Zum einen das Hospiz-Zentrum, das auch Menschen von außerhalb der Stadt offen steht, andererseits das Krankenhaus als Sterbeort vieler Menschen aus dem Hegau und darüber hinaus. Verstorbene Singener waren es laut Standesamt 2015 insgesamt 472, 2016 waren es 473, 2017 exakt 488, 2018 genau 468, 2019 noch 471, 2020 dann schon 549, 2021 noch 523.
  • Auch in Hilzingen differieren die Zahlen. In der Gemeinde verstorben sind laut Standesamt etwa die Hälfte der Todesfälle. Außerhalb Hilzingens verstorbene Einwohner listet das Amt 2015 insgesamt 36, 2016 gar 45, 2017 noch 29, 2018 exakt 36, 2019 immerhin 39, 2020 schon 48, 2021 noch 31.
  • Für Engen meldet das Standesamt anteilsmäßig weniger Verstorbene außerhalb der Stadtgrenzen. 2015 sind von 79 Todesfällen 23 außerhalb verstorben, 2016 von 60 nur sechs, 2017 von 65 ganze neun, 2018 von 87 exakt zwölf, 2019 von 100 tatsächlich 25, 2020 von 110 schon 37 und 2021 von 106 insgesamt 32.
  • In Gottmadingen sind laut Standesamt 2015 von 69 Sterbefällen zwei außerhalb der Gemeindegrenzen gemeldet, 2016 von 67 vier, 2017 von 73 fünf, 2018 von 77 drei, 2019 von 69 fünf, 2020 von 62 drei und 2021 von 70 sieben.
  • Für Rielasingen-Worblingen liegt dem SÜDKURIER laut statistischer Zahlen des Standesamtes keine Unterscheidung nach Todesfällen in der Gemeinde oder von Einwohnern vor. (bie)