Singen – Als Ronen Steinke vor rund zwölf Jahren auf eine Zeitungsmeldung stieß, dass der Araber Mohammed Helmy als einziger Araber als „Gerechter unter den Völkern“ von der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem geehrt wurde, ließ ihn dieses Thema nicht mehr los. Er recherchierte, besuchte Hinterbliebene und veröffentlichte 2017 das Buch „Der Muslim und die Jüdin“. Es geht um eine Rettung in Berlin zur Zeit des Nazi-Regimes, wie die Zuhörer im Bürgersaal des Rathauses erfuhren.

Ronen Steinke hat jüdische Wurzeln. So ist es logisch, dass ihn diese besondere Geschichte, die sich in Berlin ab den 1920er-Jahren zugetragen hat, nicht mehr losließ. Unter den mehr als 25.000 mutigen Männern und Frauen, die im Zweiten Weltkrieg Juden retteten und von der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem geehrt wurde, war der aus Ägypten stammende Arzt Mohammed Helmy der einzige Araber mit muslimischem Glauben. Im Jahr 1922 kam Helmy zum Studium nach Berlin. „Tausende junger Männer kamen damals aus Kairo nach Berlin zum Studieren“, hat Steinke herausgefunden. Ihnen seien die Türen geöffnet worden, und man sei sehr darum bemüht gewesen, Freundschaften zu knüpfen.

Die zweite Hauptfigur des Buchs, Anna Boros (1925 bis 1986), lebte seit ihrem zweiten Lebensjahr in Berlin, und als sie den Arzt Helmy kennenlernte, entwickelte sich zunächst eine Art Nichte-Onkel-Beziehung. Später hilft Helmy der jungen Frau insoweit, dass er sie als seine muslimische Nichte ausgibt und schließlich ihren Übertritt zum Islam organisiert. Sie haben bis zu Helmys Tod Briefkontakt, und sie besuchte ihn auch nach ihrer Auswanderung in die USA noch zweimal in Berlin.

Im Übrigen habe es in Berlin auch Menschen gegeben, die vom Judentum zum Islam konvertierten, wie der Syndikus der Berliner Moschee, Hugo Hamid Marcus. Die Moschee habe sich zu dieser Zeit sehr fortschrittlich gezeigt. So sei Marcus zum Beispiel für die Abschaffung des Paragrafen 175 gewesen. In dem Paragrafen ging es um die Verfolgung von Schwulen, und er wurde tatsächlich erst 1994 abgeschafft. „Die Selbstwahrnehmung der Moschee war modern, und man war zum Beispiel auch für die Gleichberechtigung der Frau“, so Steinke. Bei der Recherche hatte Steinke Kontakt zu zwei Kindern von Anna Boros, die nach dem Krieg nach New York ausgewandert war. Auch Nachfahren von Mohammed Helmy hat der Autor in Kairo besucht.

Das Buch von Ronen Steinke zeigt auf, dass es im Berlin in der Weimarer Zeit eine gebildete Welt unter den dort lebenden Arabern gab, aber auch, dass sie größtenteils nicht judenfeindlich waren. Die Araber hätten damals selbst Angst vor den Nazis gehabt, doch sie seien verschont worden. Am 1. Juli 1936 hatten Vertreter wichtiger Ministerien und des rassenpolitischen Amts der NSDAP beschlossen, dass türkische, persische und arabische Muslime nicht im Sinne der Nürnberger Rassengesetze als „artfremd“ galten, erklärt Ronen Steinke im Anhang des Buchs.

Stephan Kühnle, Programmleiter der Volkshochschule des Landkreises, hätte sich unter den Zuhörern mehr Menschen verschiedener Kulturen gewünscht. Denn gerade für die Veranstaltung mit Ronen Steinke hatten die Organisatoren die Stadt mit ihrem hohen Anteil an Menschen mit nicht-deutschem Hintergrund ausgewählt. Die rund 70 Zuhörer erfuhren dafür einige sehr interessante Details über das jüdische und muslimische Leben in Berlin ab den 1920er-Jahren. Wie man es schaffen könne, in einen religiösen Dialog zu treten, wollte Kühnle wissen. „Es geht darum, sich gegenseitig im Glauben zu respektieren. Juden und Muslime sind überhaupt nicht inkompatibel“, sagte Ronen Steinke abschließend. Wenn von den drei monotheistischen Religionen Judentum, Islam und Christentum jemand „aus der Reihe tanzt“, sei es wohl eher das Christentum. Denn die Christen sehen in Jesus Christus den Messias, der auf Erden war, während Juden und Muslime den Messias noch erwarten. Die Veranstaltung war eine Kooperation der Stadt Singen, der Volkshochschule des Landkreises Konstanz, des Vereins Insi und der Singener Kriminalprävention und wurde unterstützt durch das Programm „Demokratie Leben“.

Ein Kriminologe im Jugendgefängnis

  • Der Autor: Ronen Steinke, geboren im Jahr 1983 in Erlangen, ist promovierter Jurist und arbeitet als Redakteur bei der „Süddeutschen Zeitung“. Er studierte Jura und Kriminologie, arbeitete in verschiedenen Anwaltskanzleien, einem Jugendgefängnis und beim UN-Jugoslawientribunal in Den Haag.
  • Seine Bücher: Im Jahr 2013 veröffentlichte er eine Biografie über Fritz Bauer, den mutigen Ermittler und Ankläger der Frankfurter Auschwitz-Prozesse, dessen Verfilmung „Der Staat gegen Fritz Bauer“ viele Preise erhielt. Im Jahr 2017 erschien sein Buch „Der Muslim und die Jüdin. Die Geschichte einer Rettung in Berlin“.
    Weitere Bücher Steinkes folgten: „Terror gegen Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt“ (2020) und „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz“ (2022). (sgr)