Was ist der Unterschied zwischen Lebenskrisen, Krisen und krisenhaften Situationen? Können Sie uns je ein Beispiel nennen?
Als Lebenskrise wird immer wieder der Abschied vom Beruf und der Übergang in die Rente erlebt. Loslassen des lang gewohnten Berufsleben und sich einlassen auf das neue, unsichere Terrain erleben viele Betroffene als Betreten müssen des unbekannten Niemandslandes. So wird diese Phase oft benannt. Der Verlust des geliebten Mannes, der geliebten Frau und der darauf folgende Trauerprozess kann sich auch zu einer Lebenskrise entwickeln wie das Ende einer ersten Liebe. Ihr individuelles Erleben macht die Lebenskrise aus.
Allgemeine Krisen wie etwa die derzeitige Corona-Krise treffen viele Menschen, ja vielleicht sogar fast alle. Ihre Dauer und ihre Auswirkungen sind nicht absehbar und die Bewältigungsstrategien oft umstritten.
Krisenhafte Situationen sind – so, wie ich das verstehe – eher von kürzerer Dauer, scheinen auch leichter zu bestehen zu sein, vielleicht weil ein baldiges Ende am Horizont zu erkennen ist oder weil die Instrumente zu deren Bewältigung zu Verfügung stehen – etwa bei einem Brand, einer Überschwemmung oder in einem orkanartigen Unwetter.
Empfindet und bewertet nicht jeder Mensch identische Krisensituationen anders?
Das Empfinden und die daraus entstehende Bewertung sind sicher sehr individuell, wie ja auch das Schmerzempfinden und das Bewältigungspotenzial sehr persönlich entwickelt sind. Allen drei Krisenformen liegt aber ein und dieselbe Struktur zugrunde: Es gibt die Form, die in die Auflösung geht und danach in der Übergang zur Neuformung. Also zum Beispiel: Vertrautheit – Abschied – Unbekanntheit – Gewöhnung. Das haben wir alle in der Hygieneregel „Abstand halten“ doch so erlebt. Auch im Tragen der Masken erleben wir diese Struktur und im Verbot des gegenseitigen Besuches doch auch. Da geht es um die schon immer erlebte Sicherheit, die wir aufgeben mussten, weil das Risiko aufgetaucht ist. Unsicherheit hat sich sehr breitgemacht und schließlich sind wir eingeübt und haben in jeder Tasche eine Maske vorrätig.
Wird der Begriff „Lebenskrise“ in der heutigen Zeit nicht zu häufig verwendet?
Vielleicht sind wir sensibler geworden für die eigenen Lebenskrisen, die ja immer auch Wachstumskrisen sein können, vielleicht können wir besser darüber sprechen, vielleicht haben wir eher ein offenes Ohr, ein bereites Herz für die Lebenskrisen anderer. Vielleicht verdrängen wir nicht mehr so oft entsprechende Lebenssituationen, trauen uns, um Hilfe zu bitten.
Versuchen Betroffene durch eine überspitzte Formulierung bei schwierigen Situationen womöglich, die eigene Verantwortung am Geschehen zu verringern?
Wenn ich in einer Beratung diesen Eindruck habe, dann stelle ich in bewusster Empathie Fragen und dadurch hat der Betroffene die Chance, eigene Anteile zu erkennen.
Manche Menschen sind von Schwierigkeiten/Problemen überfordert, die anderen hingegen als schier banal erscheinen. Wäre hier eine entsprechende Relativierung der Probleme nicht hilfreich?
Unser Bewältigungspotenzial ist sehr unterschiedlich ausgeprägt und auch eingeübt. Wenn es sich in einer Problemlage bewährt hat, wenn wir eine Krise ausgetragen und überstanden haben, gut bewältigt, dann stärkt das unsere Resilienz, dann können wir wie ein Stehaufmännchen fallen und aufstehen und fallen und aufstehen. Meine therapeutische Kurzformel heißt: Drama raus und Liebe rein. Das hilft oft.
Im Landkreis Sigmaringen gibt viele Beratungseinrichtungen, quasi für jede Lebenssituation gibt es Hilfsangebote. Entlässt man dadurch den Menschen nicht zu sehr aus der Eigenverantwortung für sein Leben?
Es gibt Menschen, die aus eigener Resilienz eine schwierige Lebenssituation bewältigen können, andere benötigen Hilfe, um ihre Not zu bestehen. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Beratungsstellen kennen diese Gefahr und versuchen zusammen mit den Hilfesuchenden deren Eigenverantwortung, etwa deren Anteil am Problem zu erkennen und daran zu arbeiten. Beratung ist immer begleitend, unterstützend, auch vermittelnd hin zu staatlichen und karitativen Stellen, die helfen können.
Gehört es nicht zum Menschsein dazu, dass man Erfahrungen, auch negative Erfahrungen macht, und diese dann für sein weiteres Leben nutzt?
O ja, so sieht unser Leben aus. Dieses Lebensgesetz führt uns ja auch in Entwicklungen, die das menschliche Leben, auch unser ganz persönliches, reicher, tiefer, weiter gestalten können. In der chinesischen Sprache gibt es ja bekanntlich ein Zeichen, das für Krise und Chance zugleich steht. Offensichtlich konnten und vielleicht können Chinesen immer noch Krise und Chance nur zusammen denken. Vorbildlich!
Gibt es aus Ihrer Erfahrung Zeichen, Entwicklungen, Zeitpunkte, an denen klar ist, dass der Betroffene überfordert ist und eine Krise nicht allein nicht bewältigt werden kann?
Es gibt körperliche Zeichen: ständiges Kopfweh, Bauchschmerzen, Schwindel, Schlaflosigkeit etwa. Und es gibt psychische Symptome und auch seelische Leiden: Nicht mehr anderes denken können, Ängste, untröstliches Traurigsein, Depression, Verzweiflung, Suizidgefahr. Der Körper, der Geist, die Seele schreien nach Hilfe.
Der Mensch wird mit vielen Krisen konfrontiert – von A wie Artensterben bis Z wie Zukunft des Waldes. Und stets soll er einen Beitrag zur Problemlösung leisten. Ist das nicht eine Überforderung des Einzelnen?
24 Buchstaben hat unser ABC und wahrscheinlich finden wir für jeden Buchstaben auch eine Krise. Für L etwa kommen mir unsere ungesunden Lebensmittel in den Sinn. Für T der Terrorismus und für Q seit jüngster Erfahrung Quarantäne, die sich für manche Menschen auch als Krisenerfahrung erwiesen hat, etwa in der Angst, bin ich auch infiziert?
Sie werden von Menschen, die sich in Lebenskrisen befinden, um Rat, Hilfestellung gefragt – können Sie helfen?
Ich hoffe: ja. Aber meine Beratungskapazität ist wegen meines Alters deutlich weniger geworden.