Täglich sind die TV-Bilder von Intensivstationen zu sehen. Können Sie uns den Arbeitsalltag dieser Beschäftigten im Krankenhaus Sigmaringen schildern?

Georg von Boyen: Die Ärzte und Pflegekräfte müssen den ganzen Tag Schutzkleidung tragen. Die Ärzte legen invasive Zugänge zu Schlagadern und Venen. Wenn eine Sauerstoffgabe nicht ausreicht, muss der Patient ins künstliche Koma gesetzt werden und es erfolgt eine sogenannte Intubation, sodass über einen künstlichen Zugang aktiv eine Beatmungsmaschine die Lunge mit Sauerstoff versorgt. Der Therapieplan muss engmaschig überwacht und angepasst werden. Die Pflegefachkräfte überwachen die Instrumente und Geräte bei den Patienten, die beatmet werden, prüfen Zugänge, warten Schläuche, passen täglich die Maschinen an, verabreichen Infusionen und vieles mehr. Dazu kommt die sonstige körperliche Pflege. Die regungslos im Bett liegenden Patienten müssen gewaschen werden, die Notdurft entsorgt und das Bett wieder bezogen werden. Um das Wundliegen zu verhindern, müssen Patienten gewendet werden, was mindestens vier Pfleger erfordert. Der OP-Betrieb ist eingeschränkt, die Patientenaufnahme reduziert, Stationen wurden zusammengelegt oder gar geschlossen.

Wie kann es dann sein, dass – überspitzt formuliert – eine Belegung der Intensivstation mit fünf Patienten den gesamten Krankenhausbetrieb so massiv beeinträchtigt?

Georg von Boyen: Die konkrete aktuelle Zahl hört sich im Verhältnis zum Krankenhausbetrieb tatsächlich noch gemäßigt an. Aber denken Sie daran, dass wir die Corona-Isolierstation zusätzlich aufgebaut haben und die Intensivstation unter hochaufwendigen hygienischen Schutzmaßnahmen und Bedingungen betreiben müssen. Parallel dazu muss weiterhin die vollständige medizinische Klinikversorgung des Landkreises bewältigt werden. Hinzu kommt die Psychiatrie mit 90 Betten. Momentan bereiten wir uns organisatorisch und personell auf eine Erweiterung unserer Betten in der Intensivstation und Coronastation vor, da wir von weiter steigenden Zahlen ausgehen. Weiterhin kann trotz zugespitzter pandemischer Lage eine durchgehende medizinische Versorgung und Krankenhausbehandlung in unseren Kliniken stattfinden.

Dann war die Personalsituation im SRH-Krankenhaus schon vorher auf „Kante genäht“?

Georg von Boyen: Nein, mit unserer Personalstruktur konnten wir bisher, ohne die Belastung durch die Covid-19 Pandemie, den Bedarf gut abdecken. Die Strukturen haben funktioniert, wir waren auskömmlich besetzt. Aber jetzt müssen wir seit bald 2 Jahren zusätzlich eine Pandemie medizinisch bewältigen mit Isolierstationen, die bisher nur in spezialisierten Kliniken vorgehalten wurden und Kontrollmaßnahmen umsetzen, die der Pandemie geschuldet sind. Und kein Krankenhaus verfügt über eine Personalreserve, die auf eine schwere, anhaltende Pandemie ausgerichtet ist.

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Was halten Sie von der aktuell diskutierten Impflicht?

Georg von Boyen: Selbstverständlich besteht Verständnis für Menschen, die sich in der körperlichen Integrität angegriffen fühlen, wenn eine Impfung durchgeführt wird. Demgegenüber ist abzuwägen, welcher schwer messbare psychische und gesellschaftliche Schaden durch ständige Kontaktbeschränkungen und „Lock downs“ entsteht. Dieser Verlust der Freiheit und dieses Leid darf nicht geringer gewertet werden. Die Impfungen können die Welle brechen und, wenn sich solidarisch alle beteiligen, haben wir die Chance unser früheres Leben zurück zu bekommen. Langfristig darf nicht der solidarische Teil der Bevölkerung unter ständigen Freiheitseinschränkungen und seelischen Nöten leiden, weil die Impfrate zur Verhinderung von COVID-19 Wellen nicht ausreicht. Das Fazit wäre eine Impfpflicht für alle.

Hoffentlich wird der Appell gehört!?

Georg von Boyen: Das wünsche ich mir ebenfalls. Kein Arzt möchte ein Szenario mit überfüllten Intensiv- und Krankenhausbetten durch die COVID-19 Pandemie oder z.B., dass es nach einem Unfall für Schwerverletzte keinen Platz auf der Intensivstation oder in Klinikbetten zur adäquaten Überwachung gibt. Und gerade in solchen Situationen zählt jede Minute, um Leben zu erhalten.

Welchen Verlauf der Pandemie erwarten Sie in den kommenden Wochen für den Landkreis Sigmaringen?

Georg von Boyen: Die Zahl der Corona-Patienten wird zunehmen. Aber ich gehe davon aus, dass unser Krankenhaus, bei einer Kreisbevölkerung von 130 000 Menschen, die Versorgung weiterhin aufrechterhalten kann. Entscheidend ist jetzt, dass täglich etliche tausend Menschen geimpft werden. Die Schlagzahl muss erhöht werden, um möglichst schnell 80 000 bis 90 000 Menschen zu impfen, und mittelfristig die Welle zu brechen. Kurzfristig kann die 4. Welle nur mit Kontaktbeschränkungen bewältigt werden. Wir alle, und ich meine Geimpfte und Ungeimpfte, müssen die nächsten sechs bis acht Wochen unseren gesellschaftlichen Umgang reduzieren.

Hätten Sie erwartet, dass trotz einer Impfquote von etwa zwei Dritteln die Infiziertenzahl in Deutschland sich so entwickelt?

Georg von Boyen: Eine 4. Welle haben wir in der Klinik und auch viele Experten erwartet und im Sommer vor dieser Entwicklung gewarnt. Ein Blick nach Israel hätte genügt, um diese Warnung ernst zu nehmen. Dort hatte man eine sehr hohe Impfquote, dann erhöhten sich die Infiziertenzahlen extrem auch bei Geimpften und der Staat reagierte sofort mit der Drittimpfung und nun sinken die Fallzahlen. Eine Welle diesen Ausmaßes hatte ich persönlich allerdings nicht erwartet.

Professor Georg von Boyen, Leiter des Corona-Stabes der SRH Kliniken GmbH Landkreis Sigmaringen, berichtet über die Bettenbelegung im ...
Professor Georg von Boyen, Leiter des Corona-Stabes der SRH Kliniken GmbH Landkreis Sigmaringen, berichtet über die Bettenbelegung im Krankenhaus Sigmaringen. | Bild: Julia Waßer

Wie viele Pfleger arbeiten an den drei Klinikstandorten und wie viele Pfleger können aufgrund ihrer Ausbildung auf der Corona-Station bzw. Intensivstation eingesetzt werden?

Stefan Ries: Im Pflegebereich haben wir 518 Köpfe, das heißt Voll- und Teilzeitbeschäftigte, wobei wir glücklicherweise einen hohen Fachkräfteanteil haben. Aber ich kann nicht jede examinierte Pflegekraft auf der Intensivstation einsetzen.

Warum?

Stefan Ries: Die Versorgung von an Covid erkrankten Patienten auf unserer Intensivstation sowie auf unserer Isolierstation ist mit dem normalen Krankenhausalltag nicht zu vergleichen. Jede Tätigkeit muss unter Vollschutz durchgeführt werden, was sehr anstrengend ist. Die Pflege ist sehr komplex, körperlich fordernd und auch psychisch für die Mitarbeiter sehr belastend.

Was verursacht den aktuellen Personalmangel?

Stefan Ries: Dazu kommt die Betreuung der zusätzlich eingerichteten Corona-Station, die ebenfalls personalintensiv ist. Und wir müssen ja den Krankenhausalltag mit derzeit etwa 240 belegten Betten bewältigen. Um zwölf Intensivtherapieplätze betreiben zu können benötigen wir 27,4 Stellen. Wir gehen aber davon aus, dass eine Intensivkraft am Tag zwei Therapiepatienten und in der Nacht drei Therapiepatienten betreuen kann.

Fragen: Siegfried Volk