Die Zukunft der ärztlichen Versorgung für Kassenpatienten beginnt am 16. April zunächst probeweise auf zwei Jahre im Stadtkreis Stuttgart und im ländlich geprägten Landkreis Tuttlingen. An diesem Tag startet die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) als erste KV in Deutschland ein Telemedizinprojekt. Versicherte der gesetzlichen Krankenkasse, die in einem der beiden Kreise wohnen, können sich in Zukunft bei "docdirekt" telemedizinisch beraten und behandeln lassen. Am Freitag stellten Vertreter der KVBW, der Landesärztekammer, des Technologiepartners Teleclinic und des Tuttlinger Landratsamtes das neue Projekt vor.

Für Tuttlingens Landrat Stefan Bär geht es bei dem Projekt um zwei Eckpunkte. "Auch bei uns leidet die Krankenhausambulanz darunter, dass wie im Landesdurchschnitt 60 Prozent der Patienten in der Notfallambulanz keine Notfälle sind." Deshalb habe der Landkreis als Krankenhausträger ein Interesse daran, diesen Anteil der Ambulanz-Besucher zu reduzieren. Der zweite Eckpunkt ist die medizinische Versorgung in der ländlichen Struktur des Kreises. Wenn ein plötzlich erkrankter Patient wochentags seinen Hausarzt nicht erreichen kann, steht ihm von Montag bis Freitag jeweils zwischen 9 und 19 Uhr das Telemedizin-Projekt kostenlos zur Verfügung. Dorthin kann sich der Patient entweder per Telefon, per Videotelefonie oder Online-Chat wenden. Wer die Stuttgarter Nummer wählt, erreicht zuerst medizinisch geschultes Personal. Aufgrund der geschilderten Symptome wird der Patient an einen der 35 beteiligten niedergelassenen Ärzte weitergeleitet. Dieser Mediziner ruft dann bei dem Patienten an.

Neu ist an dem Projekt, dass erstmals in Deutschland der Telemediziner eine Ferndiagnose stellen darf. Das ist bislang und außerhalb der beiden Modellgebiete den Ärzten verboten. Dazu erklärte KVBW-Vorstandsmitglied Johannes Fechner: "Wir arbeiten schon aus rechtlichen Gründen nur mit niedergelassenen Ärzten zusammen. Diese Mediziner mussten sich in einer Schulung qualifizieren." Um diese Ausnahmeregelung umsetzen zu können, war die Zusammenarbeit mit der Landesärztekammer unter Präsident Ulrich Clever erforderlich. Bei der Pressekonferenz im Tuttlinger Landratsamt erläuterte Clever, das Fernbehandlungsverbot gelte schon seit Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung durch Bismarck.

Das gesamte Projekt ist bundesweites Neuland. Viele Aspekte stehen noch nicht fest. Aber der KVBW-Vorsitzende Norbert Metke zeigte sich bei der Pressekonferenz überzeugt, dass sich die Telemedizin bereits in wenigen Jahren zu einem gängigen Zweig in der Patientenversorgung entwickeln werde. Metke belegt das mit dem heutigen Verhalten vieler Versicherter. Er verwies darauf, dass viele Patienten bereits heute zunächst in einschlägigen Internetforen medizinische Ratschläge und Erklärungen suchten. Auf der anderen Seite gebe es im benachbarten Ausland bereits telemedizinische Angebote. Viele Patienten aus Deutschland nutzten diesen Service bereits.

Wie sehr das Projekt noch in den Kinderschuhen steckt, wurde an folgendem Problem deutlich: Die Frage ist, wie ein Patient zu dem Medikament kommt, das ihm der Telemediziner verordnet. Die Vertreter der KV verwiesen auf die derzeit noch gültige Rechtslage. Danach muss dem Apotheker ein Rezept auf Papier vorliegen. Erst dann darf er ein verschreibungspflichtiges Präparat abgeben. In anderen europäischen Staaten sei es aber schon möglich, dem Apotheker das Rezept digital zuzuschicken. Ähnlich sieht es auch bei der Identifizierung des Patienten aus. Wie Fechner und Metke sagten, gibt es derzeit noch keinen Kontrollmechanismus: "Das läuft zunächst auf Vertrauensbasis." Das gelte im übrigen auch und besonders für die Datensicherheit.

 

So funktioniert es

Das neue Telemedizin-Angebot ist während der wissenschaftlich begleiteten Testphase nur für gesetzlich Versicherte aus den beiden Modellgebieten Stuttgart und Tuttlingen bestimmt. Es handelt sich um einen kostenlosen und nicht auf Profit ausgerichteten Service der KVBW. Der Patient kann per App, online oder unter der Telefonnummer (0 11/96 58 97 00 montags bis freitags zwischen 9 und 19 Uhr mit docdirekt Kontakt aufnehmen. Die fünf Mitarbeiter in der Stuttgarter Zentrale sind besonders geschult. Sollte der Patient über Symptome klagen, die beispielsweise auf einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall hindeuten, wird er direkt mit der für ihn zuständigen Rettungsleitstelle verbunden. Nach der Meldung per Video, Chat oder App nehmen die Mitarbeiter die Patientendaten auf. Diese Daten werden an den Tele-Arzt übermittelt. Dieser Mediziner meldet sich dann beim Patienten. Sollte sich während dieses Gesprächs die Notwendigkeit eines persönlichen Arztkontaktes ergeben, wird von docdirekt ein Termin in einer nahen Notfallpraxis vermittelt. Dazu gibt es in den Modellgebieten haus- und fachärztliche PEP-Praxen (PEP steht für patientennah erreichbare Portalpraxis). Für die Kontaktaufnahme mit der PEP-Praxis erhält der docdirekt-Patient eine Identifikationsnummer. Sollte ein solcher persönlicher Kontakt nicht erforderlich sein, berät der Tele-Arzt den Patienten abschließend. http://www.kvbawue.de