Der Zeitgeist ist ein komisches Ding. Mal ziehen die Zeitgenossen fröhlich und unbeschwert durch ihr Leben, ein andermal blicken sie auf die Zukunft wie das Kaninchen auf die Schlange. Die 1960er- und 1970er-Jahre waren von einer Aufbruchsidee beseelt. Die Menschen befreiten sich von überflüssigen Zwängen, ein jugendliches, optimistisches Lebensgefühl griff um sich.
Im Rückblick erstaunt, wie breit diese Bewegung in der Gesellschaft hierzulande war und wie sie große Teile der Welt erfasste. Einen kleinen Zipfel davon zeigt die Fotostiftung in Winterthur in der Ausstellung „Mon Temps“ mit Fotografien von Peter Knapp.
Lippenstift versus Latzhose
Geboren 1931 in Bäretswil im Züricher Oberland, war Knapp bereits ein erfolgreicher Fotograf, der in New York lebte, als ihn 1959 Hélène Lazareff, die Herausgeberin von „Elle“ fragte, ob er als Art Director ihrem 1945 in Paris gegründeten Magazin ein radikal neues Design verleihen wolle. Knapp griff zu und entwickelte „Elle“ zu einem Leitmedium. „Elle“ war keine Verkaufsfläche für Anzeigenkunden, wie heutzutage viele Magazine.
Es ging um Kultur, Literatur, Gesellschaft, Einrichtung und vieles andere; großgeschrieben war die Mode. Lazareff verstand „Elle“ als feministische Zeitschrift, drei Viertel der Redaktion war weiblich. Sie wollte ihre Leserinnen dazu bewegen, aus den drei K – Kinder, Küche, Kirche – auszubrechen. Der französische Feminismus unterschied sich vom deutschen: Savoir-vivre versus Dogmatismus, Lippenstift versus Latzhose.

Wie deutlich die Veränderungen in der Mode das Streben der Frauen nach Freiheit und Selbstverwirklichung spiegeln, verblüfft, wenn man durch die gut gehängte Schau wandelt. Die Röcke werden kürzer, Hosen halten Einzug, Schmuck wird reduziert, Schuhe sind flach. Parallel dazu wandelt sich die Darstellung.
Mit der Haute-Couture-Tradition, die Kleidungsstücke möglichst detailgetreu mit Models in statischen Posen – oft noch als illustrative Zeichnung – wiedergibt, bricht „Elle“ und setzt mit Prêt-à-porter auf Fotografien, die bequeme, für viele Lebenslagen taugliche Mode keck präsentieren oder in Geschichten verpacken.
Frauen laufen, springen, schweben
„Elle“, so Peter Pfrunder, Direktor der Stiftung, trug stark zu einer lebensfrohen Demokratisierung weiblicher Kleidung bei. Und mit streng komponierten Bildfindungen betonte Knapp das neue Körper- und Lebensgefühl der Frauen. Wichtig waren ihm dynamische Bilder: Frauen, die laufen, springen oder gar in der Luft schweben. Wenn Standbilder die Dynamik begrenzten, griff er zu Bildern aus Filmsequenzen, wie überhaupt sein Schaffen von Experiment und Spiel getrieben scheint.

Knapp fotografierte zunächst in Schwarzweiß, ab Ende der 1960er-Jahre in Farbe, als Farbseiten im Magazin die Oberhand gewannen. Auf tiefschwarzen Grund liegen mehrere Models ineinander verschachtelt. Sie tragen Strumpfhosen, Pullover und Shorts aus knalligem Gelb oder Blau, so als posierten sie für ein Pop-Art-Gemälde.
Das Verhältnis von angewandter zu freier Kunst sei eines der gegenseitigen Befruchtung, sagt der 91-jährige Knapp heute selbstbewusst. Für ihn ist die Modefotografie nur eine Etappe in einem langen Künstlerleben.
Fundgrube für Modeinteressierte
Von den Mannequins, mit denen er arbeitete, erinnert sich Knapp vor allem an Nicole de Lamargé. Er erzählt mit Freude die Geschichte, als man die Idee hatte, sechs Filmdiven wie Monroe, Dietrich oder Garbo nachzustellen. Man überlegte noch, wo man die sechs Models herbekommen könne, als de Lamargé meinte, sie würde alle Diven allein verkörpern. Das Ergebnis ist gelungen, wie die Aufnahmen zeigen.
Die Ausstellung dürfte eine Fundgrube für Modeinteressierte sein. Für Zeitgeistinteressierte bietet sie Anschauungsmaterial, wie Formen die Zeit repräsentieren. Und sie kann dem Sensiblen helfen, ein Gespür zu entwickeln, wohin sich der Zeitgeist heute bewegt.
Peter Knapp: „Mon Temps“. Bis 12. Februar in der Fotostiftung Schweiz, Grüzenstr. 45, Winterthur. Öffnungszeiten: Di.-So. 11-18 Uhr, Mi. 11-20 Uhr. Weitere Informationen: www.fotostiftung.ch