Ein Fotomuseum stellt fotografische Werke aus, die wichtig sind. Werke werden aber auch wichtig, wenn ein Museum sie ausstellt. Diese Dialektik zeigt sich derzeit in Winterthur. Die Fotostiftung zeigt Jakob Tuggener, das Fotomuseum gewährt Einblick in seine 30-jährige Sammlung.

Die Stiftung ist der Schweizer Fotografie verpflichtet. Peter Pfrunder, noch bis Ende Mai Leiter der Institution, betont in der Presseführung, dass Jakob Tuggener nicht die heutige, angemessene Bekanntheit und Wertschätzung genießen würde, hätte nicht Kurator Martin Gasser das Werk minutiös aufgearbeitet und in zwei Ausstellungen präsentiert. Mit „Jakob Tuggener – Die 4 Jahreszeiten“ folgt nun der letzte Teil der Trilogie.

In Tuggeners Schaffenszeit gibt es wenig Fotografen, die sich als Künstler bezeichnen. Blickt man auf sein Werk, bestätigt sich das Selbstbild. Sein Credo ist die Verbildlichung einer Idee: nicht Abbilden und Dokumentieren ist das Ziel, sondern das Vermitteln von Eindrücken und Erfahrungen. 1904 geboren, absolviert er eine Lehrzeit als Maschinenzeichner bei der Firma Maag in seiner Geburtsstadt Zürich. Hier kommt er 1926 über einen Kollegen mit der Fotografie in Kontakt. Anfang 1930 belegt er für ein Jahr Kurse an der renommierten Kunst- und Kunstgewerbeschule Reimann in Berlin.

In der Spreemetropole entstehen erste Aufnahmen von rauschenden Festen seiner Schule, ein Topos, den er nach seiner Rückkehr über mehrere Dekaden verfolgt. Die beachtenswerten Bilder über das luxuriöse Leben der Schönen und Reichen in der Schweiz wurden 2004 unter dem klingenden Titel „Ballnächte“ in Winterthur gezeigt. 2017 beleuchtete die Stiftung sein zweites wichtiges Thema: das Verhältnis des Menschen zur Arbeit in den Fabriken der 1930er- bis 1950er-Jahre. In den Bildern von Schmelzöfen, Turbinen, Webstühlen sowie den Menschen, die die Maschinen handhaben, sind Dynamik, Hitze, Lärm und die Gefahren förmlich spürbar.

Jakob Tuggener: Feriengäste des La Forclaz, Val d‘Herens, 1957.
Jakob Tuggener: Feriengäste des La Forclaz, Val d‘Herens, 1957. | Bild: Tuggener, Jakob

Tuggener war künstlerisch seiner Zeit voraus, was sich etwa in seinen eigenwilligen Buchmaquetten manifestiert. Gut 70 druckfertige Buch-Unikate hat er konzipiert, mit formatfüllenden Seiten, assoziativen Gegenüberstellungen, filmisch anmutenden Bildfolgen, Verzicht auf Legenden und erläuternde Texte. Dennoch oder eher wegen der kompromisslosen Vorgaben fand sich zu seinen Lebzeiten kein Verleger; nur das Buch „Fabrik“ von 1943 wurde publiziert und gilt heute als Meilenstein des Fotobuchs.

In der aktuellen Ausstellung beleuchtet Gasser einen bisher weniger bekannten Teil von Tuggeners Werk: Das Leben auf dem Land. Über drei Jahrzehnte fotografiert der Künstler mit Herzblut und Intensität das dortige Geschehen. 1973/74 gestaltet er aus dem Material vier umfangreiche Maquetten, die den Mittelpunkt der neuen Schau bilden.

Viele der authentischen, poesievollen und in ihrer dunklen Stimmung oft geheimnisvollen Arbeiten beschreiben die ländliche Arbeit. Man sieht, wie im Frühling das Feld bestellt, der Ochsenkarren eingesetzt, die Saat ausgebracht, im Sommer das Heu getrocknet, das Getreide gedroschen, im Herbst Obst und Gemüse geerntet und im Winter Jauche ausgebracht, Vieh geschlachtet und Holz geschlagen wird. Jedes Familienmitglied muss mit anpacken.

Jakob Tuggener, Lüscherz, 1944: Blick in eine Dorfschule. Das Mädchen am Rechenschieber, der Junge schaut barfuß zu.
Jakob Tuggener, Lüscherz, 1944: Blick in eine Dorfschule. Das Mädchen am Rechenschieber, der Junge schaut barfuß zu. | Bild: Jakob Tuggener Stiftung / Fotostiftung Schweiz

Die Bilder sind ein Gleichnis für das Werden und Vergehen der Natur, des menschlichen Lebens. Sensibel hat er die Menschen porträtiert und die Atmosphäre in den Wohn- und Schlafstuben nebst Hühnern und Katzen eingefangen. Bei den oft in schwierigen Lichtverhältnissen aufgenommenen Bildern, zeigt sich großes Können im Umgang mit der Technik.

Anders als die Stiftung, ist das Fotomuseum seit seiner Gründung international ausgerichtet und hat den Anspruch, den gesamten Raum der aktuellen Fotografie abzudecken. Es ist eine Herkulesaufgabe, denn die Definition dessen, was Fotografie ist, fließt.

Der Grund liegt im Medium selbst, das von technischem Fortschritt geprägt wird, und im so entstehenden Neuland, das die Künstler kreativ ausloten. Indem das Fotomuseum diese Grenzüberschreitungen zeigt und sammelt, beteiligt es sich an der Debatte und gestaltet die Zukunft der Fotografie mit.

Graciela Iturbide: „Magnolia (1), Juchitán, Mexico“, 1986, aus der Serie „Juchitán“, 1979-1988.
Graciela Iturbide: „Magnolia (1), Juchitán, Mexico“, 1986, aus der Serie „Juchitán“, 1979-1988. | Bild: Graciela Iturbide

Die Ausstellung „Der Sammlung zugeneigt“ bietet dem Besucher einen Einblick in die vielen Aspekte einer Sammlungstätigkeit. Mit 19 Künstlern wird ein Querschnitt der 9000 Objekte, die meist Ankäufe aus vergangenen Ausstellungen sind, gezeigt – diesmal in den Räumen der Stiftung, denn das Museum wird bis Anfang 2025 umgebaut. Die Werke sind in fünf Gruppen sortiert, die in der Ausstellung farblich markiert sind, damit sie in der „nicht-linearen Präsentation“ identifiziert werden können. Eine gelungene Präsentation, deren Erkundung anregt.

Museumsleiterin Nadine Wietlisbach diskutiert engagiert die Ergebnisse, die bei der Untersuchung und Sichtung der Bestände zutage traten; die Grafiken dazu hängen prominent im Eingangsbereich. Bei den Formaten sind Wandbilder nach wie vor dominant. Das Alter der Künstler beim Kauf der Bilder liegt zwischen 30 und 40 Jahren und meist am Beginn ihrer Karriere. Bei der Geschlechterverteilung (70 Prozent Männer) und der regionalen Aufteilung (Schweiz, West-Europa und USA stark, Osteuropa und globaler Süden wenig) sieht Wietlisbach Handlungsbedarf.

Es wird interessant sein, zu beobachten, ob das Bemühen um mehr anteilige Repräsentation verschiedener Gesellschaftsgruppen den Blick auf die Entwicklung der Fotografie schärft oder eher verwässert. Für die Ausstellung hat sie für ausgleichende Gerechtigkeit gesorgt, und den Anteil der Werke von „weiblich gelesenen Kunstschaffenden“ deutlich erhöht.

Bis 20. Mai. „Jakob Tuggener – Die 4 Jahreszeiten“ und „Der Sammlung zugeneigt – Konstellation 1“, Fotostiftung Schweiz, Grüzenstr. 45, Winterthur. Öffnungszeiten: Di-So 11-18 Uhr, Mi 11-20 Uhr, freier Eintritt ab 17 Uhr. Weitere Informationen: www.fotostiftung.ch