Christian Grutz nimmt kein Blatt vor den Mund: „Wer irgendwie die Chance hat, in die Schweiz zu ziehen oder dort zu arbeiten, der sollte das tun – denn die gesetzliche Rente in Deutschland reicht nirgendwo mehr hin.“ Grutz ist seit über 25 Jahren in der Schweiz als Berater im Bereich der beruflichen Vorsorge tätig, lebt aber in Konstanz. Beim Blick über die Grenze werde deutlich, was alles falsch laufe im deutschen Rentensystem, sagt er.
Deutschland fehlt die obligatorische betriebliche Vorsorge
„Mit dem System, das wir jetzt in Deutschland haben, fahren wir bald an die Wand“, stellt Grutz klar. Um zu verstehen, was er meint, müsse man sich die Unterschiede der beiden Rentensysteme vor Augen führen. In der Schweiz besteht das Rentensystem aus drei Säulen.
Die erste Säule ist die staatliche und obligatorische Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), sie ist mit dem deutschen System vergleichbar. Die berufstätige Bevölkerung finanziert hier mit ihren Beiträgen die Renten der pensionierten Bevölkerung.

Die zweite Säule ist die berufliche Vorsorge. Sie ist obligatorisch für alle Schweizer Angestellten, die mehr als den Mindestjahreslohn von 22.680 Schweizer Franken verdienen. Die Beiträge der zweiten Säule werden vom Angestellten und vom Arbeitgeber gemeinsam gezahlt, wobei der Anteil des Arbeitgebers mindestens die Hälfte betragen muss, oftmals wird mehr gezahlt.
Das Geld fließt auf ein Alterskonto, welches am Kapitalmarkt angelegt wird. Im Rentenalter wird es dann inklusive erzielter Zinsen ausgezahlt. Dieses Kapitaldeckungsverfahren steht im Gegensatz zum Umlageverfahren der ersten Säule und soll dem Versicherten ermöglichen, seinen Lebensstandard nach der Rente aufrechtzuerhalten. Die dritte Säule ist die private Vorsorge.
Den großen Unterschied sieht Grutz in der beruflichen Vorsorge. „Deutschland hat eigentlich nur die erste Säule. Natürlich gibt es je nach Betrieb auch noch eine betriebliche Vorsorge. Aber die spielt eine viel geringere Rolle und viele Arbeitnehmer haben die überhaupt nicht“, sagt er. Es bleibe also nur die staatliche Vorsorge – und da es in Zukunft immer weniger Arbeitnehmer gebe, die immer mehr Rentner finanzieren müssten, gehe schlicht die Gleichung nicht auf. In Deutschland betrug im Jahr 2023 die gesetzliche Rente aus Altersgründen durchschnittlich 1400 Euro im Monat bei Männern, 950 Euro bei Frauen. Zu wenig, sagt Grutz.
Auch in der Schweiz fehlen die Beitragszahler
Deutschland müsse dringend etwas reformieren, das jetzige System sei gescheitert, sagt Grutz: „Wir müssen laut darüber nachdenken, beispielsweise die staatliche Rente zurückzufahren zugunsten eines Kapitaldeckungsverfahrens.“ Er hat einen Sohn, der ebenfalls in der Schweiz arbeitet. Würde dieser in Deutschland arbeiten und nur die staatliche Rente bekommen, wäre er besorgt. Dabei habe die Schweiz die gleichen Probleme wie Deutschland.
„Verstehen sie mich nicht falsch, auch in der Schweiz geht die staatliche Vorsorge nicht auf, da gibt es auch immer weniger Beitragszahler und immer mehr Rentner“, sagt Christian Grutz. Deswegen gebe es eben die zweite Säule, auch Pensionskasse genannt. Sie sei rentenbildend und sichere auch gegen Invalidität ab. Ein Thema, das jüngeren Generationen häufig nicht so bewusst sei, aber durch schwere Krankheiten sehr akut werden könne.
Grutz ist es wichtig zu betonen, dass die durchschnittliche Erwerbsminderungsrente in Deutschland 2023 bei 1059 Euro lag. „Wer also in jungen Jahren aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten kann, dem droht in Deutschland die totale Armut“, sagt er. In der Schweiz hingegen ergänzt die Pensionskasse der zweiten Säule die staatliche Invalidenrente, um den Lebensstandard zu sichern.
Rentenexperte stimmt Grutz zu
Den Blick über die Grenze zu den Schweizer Nachbarn, wo vermeintlich alles besser funktioniert, kann Bernd Raffelhüschen nachvollziehen. Der Freiburger Ökonom ist bekannt für seine Kritik an der Rentenpolitik Deutschlands. Für die von Arbeitgeberverbänden finanzierte, wirtschaftsliberale Lobbygruppe Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) ist er als Berater tätig.

Raffelhüschen stimmt Grutz zu: „Die Schweiz hat ein besseres Rentensystem als Deutschland. Im AHV gibt es dort zwar die gleichen Probleme wie bei uns. Aber: Das ist nur ein kleiner Teil des Systems und macht nur ungefähr 20 Prozent des Durchschnittseinkommens aus.“ In Deutschland liege die Quote bei der gesetzlichen Rente bei ungefähr 50 Prozent. In der Schweiz sorge die kapitalgedeckte betriebliche Altersvorsorge für die Sicherung des Lebensstandards.
Die kapitalgedeckte Altersvorsorge als zweite Säule sei aber kein Alleinstellungsmerkmal der Schweiz. In verschiedenen Ausgestaltungsformen gebe es diese auch in den skandinavischen Ländern. Alle diese Länder hätten das schon vor Jahrzehnten eingeführt – und nun eine bessere Altersvorsorge als Deutschland. „Deutschland hat da gepennt“, sagt Raffelhüschen. Ein flächendeckendes Kapitaldeckungsverfahren einzuführen, das sei jetzt zu spät.
Machtkampf zwischen Jung und Alt erwartet
Die Quittung dafür erhalte nun die jüngere Generation – oder wie Bernd Raffelhüschen, Jahrgang 1957, es ausdrückt: „Meine Generation beutet durch das Umlageverfahren die jetzigen und kommenden Beitragszahler unablässig und bis zum Anschlag aus. Wir machen sie dafür verantwortlich, dass es so wenig Beitragszahler gibt, obwohl wir daran Schuld sind.“
Raffelhüschen erwartet deshalb einen Machtkampf zwischen Jung und Alt. „Die Alten werden die Beiträge erhöhen wollen, die Jungen das Rentenniveau senken.“ Da aber die Alten die politische Mehrheit hätten, würden diese sich auch durchsetzen. Niemand traue sich den Alten zu sagen, dass sie eigentlich länger arbeiten und weniger bekommen sollten. Das System sei also zum Scheitern verurteilt.
Düstere Aussichten also. Sie passen zu Christian Grutz Rat, dass jeder, der die Möglichkeit habe, sich nach Arbeit in der Schweiz umschauen solle. Und wenn das nicht geht? Grutz überlegt – und sagt dann: „Dem kann ich nur dazu raten, sich so früh wie möglich Gedanken über seine private Vorsorge zu machen.“