Der 14. September 2015 haftet Werner Hesselmann wohl noch lange im Gedächtnis. Ein Tag, der auf einen Schlag sein Leben verändert hat. Ein unangenehmes Gefühl auf der Brust, das Einlenken auf den Pannenstreifen, ein Aussetzer, dann der Unfall. Der 7,5-Tonner des heute 64-Jährigen aus Murg-Oberhof nahe der Schweizer Grenze rollte durch einen Zaun und blieb auf der Wiese stehen.

Polizeibericht und nachfolgende Gutachten mündeten in einem Fahrverbot für die Schweiz. Hesselmann darf heute, nach sieben Jahren, immer noch nicht im Nachbarland fahren und findet deshalb keinen Job als Lastwagenfahrer. Er weiß: „90 Prozent fahren in oder durch die Schweiz.“

Auch keine deutsche Firma nimmt ihn

Am Telefon schildert Hesselmann dem SÜDKURIER, was damals passiert ist und warum er heute in der Schweiz immer noch nicht mit motorisierten Fahrzeugen fahren darf. Er schickt uns die Akten zu. Seine Geschichte klingt wie eine Odyssee. Hesselmann erklärt: „Mit dem Fahrverbot in der Schweiz bekomme ich auch hier in Deutschland keinen Job mehr. Egal, wo ich mich beworben habe, haben sie mir gesagt: ‚Kommen Sie wieder, wenn Sie wieder in der Schweiz fahren dürfen.‘“

Unfall nach einem kurzen Aussetzer

Es ist noch dunkel, es regnet leicht an jenem Tag im Frühherbst vor sieben Jahren. Um 5 Uhr steigt Hesselmann in Bad Säckingen in seinen 7,5-Tonner und beginnt seine Tour in die Schweiz. Er fährt für ein Textilunternehmen. Eine Stunde später auf der Autobahn N1 Richtung St. Gallen bei Bertschikon passiert es. „Ich habe ein komisches Gefühl im Brustbereich gespürt und bin sicherheitshalber auf den Pannenstreifen gefahren“, beschreibt er.

Dann ist er für vier Sekunden weg. Er bekommt nicht mit, wie sein Fahrzeug einen Zaun durchschlägt. Erst als der Lastwagen auf der angrenzenden Wiese ausrollt, kommt er wieder zu sich. Wie im Film laufen die Szenen bei ihm heute noch im Kopf ab, wie er sagt.

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Nach Winterthur zur Blutabnahme

Ein Bauer verständigt die Polizei, die spricht vor Ort schon ein vorläufiges Fahrverbot aus. In Winterthur wird ihm eine Blutprobe entnommen. Der Befund des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Zürich liegt zehn Tage später vor: „Die forensisch-toxikologischen Untersuchungen haben keine Stoffe aufgedeckt, welche zum Unfallzeitpunkt einen negativen Einfluss auf die Fahrfähigkeit ausgeübt haben.“ Sprich: Alkohol oder andere Drogen sind nicht im Spiel. Hesselmanns Zustand könne medizinische Ursachen haben.

Kurz vor Weihnachten erhält Hesselmann Post: Die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland stellt das Strafverfahren wegen Nichtbeherrschens des Fahrzeugs ein. Mit Blick auf ein augenscheinlich medizinisches Problem sei jedoch die Fahreignung zu prüfen.

Die erste verkehrsmedizinische Begutachtung

Im März 2016 bekommt Hesselmann einen Termin beim rechtsmedizinischen Institut der Universität Zürich in Winterthur für eine verkehrsmedizinische Begutachtung, um die Fahreignung zu klären. Die Mediziner weisen auf ein „offenbar schon länger bestehendes Alkoholproblem“ hin.

Deshalb sei die Fahreignung aus verkehrsmedizinischer Sicht für sämtliche Führerscheinkategorien nicht gegeben. Hesselmann räumt ein, dass er zwischenzeitlich etwas mehr Alkohol als sonst konsumiert habe. „Das war in den sieben Monaten Wartezeit. Ich habe nicht damit gerechnet, dass so etwas auf mich zukommt.“

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Die Begutachtung kostet ihn 1500 Franken. Sie habe eine Stunde gedauert – bei einem Arzt. „Der Termin war am 23. März 2016, der Unfall am 14. September, also sieben Monate, sprich 192 Tage davor“, wundert sich Hesselmann über die lange Zeitspanne, „bei einer Haaranalyse kann man bis zu sechs Monate und mehr zurückverfolgen.“

Er berichtet überdies von einem Dialog mit dem Arzt, der nach seinen Schilderungen so ablief: „Haben Sie einen Schweizer Fahrausweis?“ „Nein.“ „Haben Sie einen Wohnsitz in der Schweiz?“ „Nein.“ „Was machen Sie dann hier? Da sind doch die Deutschen zuständig, nicht wir.“

Das sagt das Schweizer Bundesamt für Straßen Astra zum Fahrverbot:

Deutsche Ärzte attestieren Fahrtauglichkeit

Die Ärzte auf der deutschen Seite finden indes keine Ursachen für die Brustschmerzen und den Aussetzer. Sie hätten zusammen 34 Stunden reine Untersuchungszeit benötigt. Ein Lörracher Fachmediziner sieht die Anforderungen für die Fahrtauglichkeit als gegeben.

Hesselmann behält laut Mitteilung des Landratsamts im September 2016 den deutschen Führerschein. „Ich darf überall auf der Welt fahren – nur nicht in der Schweiz.“ 2017 macht er den Lastwagenführerschein der Klasse CE (bis 40 Tonnen). In der Hoffnung, besser Arbeit zu finden. Bisher immer noch ohne Erfolg.

Die zweite verkehrsmedizinische Begutachtung

Bei der zweiten Begutachtung am 18. März 2021 (Kosten: 1453 Franken, Dauer: etwa drei Stunden), diesmal in Basel, können ihm kein Alkohol oder andere Drogen nachgewiesen werden. „Jetzt greifen sie mich aber mit dem Dämmerungssehen an“, ärgert sich der 64-Jährige.

Die Ärztin habe ihn gebeten, das augenärztliche Gutachten in Deutschland zu machen. Eine Kopie mit dem Ergebnis der Untersuchung in Bad Säckingen schickt er der Ärztin. Worüber er sich wundert: „Hier liest man bei Dämmerungssehen ‚Bedingungen nicht erfüllt‘. Schaut man etwas weiter unten, steht da: ‚Sehvermögen ist für die beantragten Klassen mit Sehhilfe ausreichend‘.“

Hinweis auf das Dämmerungssehen

„In Basel kann man wohl nicht richtig lesen, und sie haben mir wieder keine Fahrerlaubnis gegeben“, poltert er. Deshalb habe er die Augen noch zwei Mal untersuchen lassen. Unter dem Punkt Dämmerungssehen steht: „Bedingungen erfüllt.“ Wieder mit Sehhilfe. Hesselmann: „Auch im 15-seitigen Gutachten ist auf Seite 9 zu lesen, dass mein Sehvermögen ausreichend ist. Auf Seite 14 dagegen heißt es: ‚nicht ausreichend‘.“

Obwohl Hesselmann eine Reha und Betreuung der Fachstelle Sucht hinter sich hat und abstinent lebt, weist das Gutachten auf ein Alkoholproblem hin. Zudem auf Defizite in der kognitiven Leistungsfähigkeit.

Das Geld für die nächste Begutachtung fehlt

Alles laufe wieder einmal darauf hinaus, dass er sich nun nicht nur erneut einer augenärztlichen Begutachtung, sondern einer kompletten Neubegutachtung in der Schweiz – unter Einhaltung der Alkoholabstinenz – unterziehen lassen müsse. „Das kostet zusammen mit dem Augenarzt wieder 2200 Franken.“ Aber: Er lebe derzeit von Arbeitslosengeld II und könne sich das mit 400 Euro im Monat einfach nicht leisten.

Er sucht nach einem Augenarzt in der Schweiz

Sein jüngster Sohn lebe in der Schweiz und habe zusätzlich einen Schweizer Pass. Hesselmann möchte ihn deshalb bitten, einen Augenarzt zu finden, der vom zuständigen Schweizer Straßenverkehrsamt anerkannt wird und ein augenärztliches Gutachten für die Behörde erstellt. Er ist frustriert: „Ich hatte einen harmlosen Unfall in der Schweiz und werde dort wie ein Krimineller behandelt.“

Eine Anstellung als Lastwagenfahrer findet er bis heute nicht. Er will aber endlich wieder Lastwagen fahren. Allmählich resigniert er: „Ich habe es langsam abgeschrieben, nicht mal mit dem Auto darf ich drüben fahren. Ich verstehe das nicht. Ich habe an jenem Tag nichts falsch gemacht.“

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