Stockach ist mit seinen nicht ganz 17.000 Einwohnern eine eher kleine Stadt. 328 Werke von 70 Künstlern sind eine recht große Kunstsammlung. Beides hat im vergangenen Jahr zusammengefunden, die kleine Stadt und die große Sammlung. Der Sammler, der diplomierte Bau-Ingenieur und frühere Bauunternehmer Heinrich Wagner, hat seine Kunstsammlung der Stadt, in der er schon so lange lebt, arbeitet und wirkt, für 30 Jahre als Leihgabe überlassen. Eine erste Auswahl der Werke ist derzeit in einer Ausstellung im städtischen Museum zu sehen. Doch was muss eigentlich alles geschehen, bis es so weit ist? An welche Formalitäten und rechtlichen Fragen müssen die Verantwortlichen denken? Wie geht eine Stadt mit überschaubaren Ressourcen an eine so große Leihgabe heran?

Erste Gespräche zwischen Wagner und dem Stockacher Bürgermeister Rainer Stolz gab es schon länger. Und auch die frühere Leiterin des städtischen Museums, Yvonne Istas, hatte mit dem inzwischen 85 Jahre alten Sammler sondiert, welche Möglichkeiten es für die Zukunft seiner Kunstsammlung gibt. Wirklich konkret wurde es aber erst im Juli 2015, sagt der Stockacher Hauptamtsleiter Hubert Walk. Er kennt sich in der Sache aus, hat die Übernahme der Leihgabe als Projektleiter der Stadtverwaltung betreut und den Leihvertrag mit ausgehandelt. Ein spezialisiertes Kunstmuseum mit einem ausreichend großen Stab an Personal, um eine solche Leihgabe allein von Spezialisten betreuen zu lassen, leistet sich die Stadt Stockach nicht. Yvonne Istas, die als promovierte Kunsthistorikerin das städtische Museum bis Ende Juni leitete, war in 20 Prozent ihrer Arbeitszeit für das Stadtarchiv zuständig – für ihren Nachfolger Johannes Waldschütz sieht die Sache nicht anders aus.

Für den normalen Betrieb reichen diese Ressourcen vollkommen aus. Eine Leihgabe von mehr als 300 Werken in Aussicht zu haben, geht aber weit über den normalen Betrieb hinaus. Und so bildeten mehrere leitende Angestellte der Stadt gewissermaßen eine Task-Force zur Sammlung Wagner. Projektleiter Walk erklärt nun, dass die Verwaltung im Juli 2015 den Gemeinderat zum ersten Mal informiert habe, dass Wagner zu der Leihgabe bereit sei. Das Gremium gab daraufhin den Auftrag, über einen Leihvertrag zu verhandeln – in nichtöffentlicher Sitzung, die Operation war sensibel und betraf Vermögenswerte einer Privatperson. Die Motivation des Sammlers? Die Sammlung sollte als Ganzes erhalten bleiben und nicht unter mehreren Erben aufgeteilt werden, sagt Wagner dazu. Und selbst habe er keinen Platz, um die mehr als 300 Werke unterzubringen.

Im November 2015 gab es dann einen ersten Entwurf des Leihvertrags, im Januar 2016 wurde der Übergang der Sammlung an die Stadt eingeleitet. Walk und Istas warfen einen ersten Blick in den klimatisierten Container, in dem der Großteil der Sammlung zu diesem Zeitpunkt noch aufbewahrt war. Dabei wurde klar, dass manche Bilder nach vielen Jahren in Wohn- und Büroräumen noch der Hand eines Restaurators bedürfen. Gravierende Schäden waren indes nicht zu verzeichnen, 20.000 Euro waren für Restaurationen im Haushalt eingeplant – und die hätten auch ausgereicht, sagt Walk. Alles wurde mit der Hilfe einer Restauratorin inventarisiert und dafür fotografiert, alles präzise in der Bestandsliste festgehalten. Und eine Versicherung musste her. Dafür kam ein vereidigter Kunstsachverständiger aus Düsseldorf in die Kleinstadt im Hegau und schätzte drei Tage lang den Wert jedes Stückes.

Eine arbeitsreiche Zeit liegt hinter den Beteiligten, das wird aus den Erzählungen deutlich. Doch ist die große Leihgabe nun Gewinn oder Belastung für die Stadt? Ist sie Fluch oder Segen? Walk, durchaus ein Mann, der die Dinge nicht nur in Schwarz oder Weiß sieht, muss nicht lange überlegen: „Es ist nur ein Segen.“ Das macht er hauptsächlich an den Bedingungen des Leihgebers fest: „Er lässt uns viele Freiheiten.“ Wagner habe lediglich gewollt, dass seine Sammlung der Öffentlichkeit angemessen präsentiert werde, sagt der Hauptamtsleiter. Ansonsten gebe es im Leihvertrag keine Beschränkungen – weder über den Ort noch die Anzahl der Ausstellungen, nicht über die Auswahl der Teile, die jeweils präsentiert werden, und es gebe auch keine Klausel darüber, dass seine Werke nur alleine ausgestellt werden dürfen. Andere Geschäfte, die nicht die Sammlung betreffen, habe es nicht gegeben, sagt Walk. Als Grund für diese großzügigen Regelungen gibt Leihgeber Heinrich Wagner an: „Ich lege Wert darauf, dass die Stadt ein gutes Bild macht.“ Das passt zum Image eines alten Stockachers, der sich sehr für seine Stadt engagiert hat – und zum Ehrenbürger ernannt wurde.

Die großzügigen Regelungen im Leihvertrag markieren einen Unterschied zu einem anderen Fall, in dem sich eine kleine Stadt einen großen Vorteil von einer Kunst-Leihgabe versprochen hat. Im Jahr 2003 hat Radolfzell eine Sammlung von 14 Ölgemälden und 108 Grafiken des Biedermeier-Malers Carl Spitzweg als Leihgabe bekommen. Die Gegenleistung dafür war die Überlassung einer prestigeträchtigen Villa direkt am See-Ufer an die Leihgeber – beides ebenfalls auf eine Laufzeit von 30 Jahren angelegt. Die Verantwortlichen in Radolfzell bestritten mit den Spitzweg-Bildern eine Dauerausstellung im damals neu eingerichteten Stadtmuseum. Die Besucherzahlen stiegen zunächst kräftig, doch nach einigen Jahren ließ das Publikumsinteresse immer mehr nach. Die Spitzwegs landeten im Archiv, auch um den Weg für eine Neugestaltung des Museums freizumachen. 2016 wurden die Bilder zurückgegeben, die Überlassung der Villa um zehn Jahre verkürzt – gegen eine Abstandszahlung an den Leihgeber, der schon in die Restaurierung investiert hatte. So kann es auch laufen.

Um das Interesse des Publikums nicht zu überstrapazieren – nach etwa einem Monat haben Museumsleiter Waldschütz und Kulturamtsleiter Stefan Keil in Stockach den 1000. Besucher der Ausstellung begrüßt – soll auch die Sammlung Wagner nicht zu häufig in Ausstellungen gezeigt werden. Konkrete Pläne gibt es noch nicht, einen zweijährigen Turnus fänden Walk und Waldschütz aber sinnvoll, so viel lassen sie durchblicken. Museumsleiter Waldschütz hat schon einige Ideen im Kopf, wie man Teile der Sammlung sinnvoll im Stadtmuseum mit seinem begrenzten Platz präsentieren könnte – zum Beispiel, indem man das Herzstück von Wagners Sammlung, den Zyklus „Daphnis und Chloé“ von Marc Chagall mit 42 Einzelblättern, allein präsentiert.

Oder den Walpurgisnacht-Zyklus von Salvador Dalí aus elf Blättern mit seinem literarischen Vorbild, Goethes „Faust“, konfrontiert. Einstweilen freut sich Waldschütz mit Kulturamtsleiter Keil, der hauptsächlich für Vermarktung und Werbung zuständig ist, über manch einen begeisterten Gruß im Gästebuch. Und darüber, dass die Ausstellung auch Menschen von weiter her motiviert, nach Stockach zu kommen. Der 1000. Besucher jedenfalls war ein Tourist aus Hannover, der zum Urlaub in Überlingen war.

Joan Miró bis Otto Dix – Ausstellung im Stadtmuseum Stockach im Kulturzentrum „Altes Forstamt“, bis 30. September 2017, geöffnet Montag bis Freitag 9 bis 12 Uhr, Dienstag bis Freitag 14 bis 18 Uhr, Samstag 10 bis 13 Uhr. Eintritt 5 Euro, Führungen donnerstags um 18 Uhr. Informationen auf www.stockach.de