In Denis Villeneuves klugem Film „Arrival“ stößt eine Linguistin im Kontakt mit Außerirdischen auf ein Sprachsystem, das nicht linear, sondern zirkular aufgebaut ist. Es handelt sich dabei also um eine Grammatik der Gleichzeitigkeit, die entgegen unserer Sprachgewohnheiten nicht von A nach B schreitet und damit zwangsläufig das Vergangene, und sei es nur einen Halbsatz her, hinter sich lässt, sondern im Moment dieses extraterrestrischen Sprechakts sichtbar werden lässt, was passieren kann, was auch immer passiert sein werden wird. Und sei es das Schrecklichste.
Warum diese Vorrede? Weil wir uns offensichtlich zu sehr an ein Fortschreiten von A nach B, dann C und so weiter, mit anderen Worten: an einen Satzbau des Fortschritts gewöhnt haben. Das hat wie gesagt vielleicht mit unserer Art zu sprechen, zu schreiben zu tun, auch mit Hegel und dessen galoppierendem Weltgeist, kurz: der Annahme, dass alles, wenn schon nicht besser, mindestens anders wird – sich jedenfalls niemals wiederholt.
Geschichte wiederholt sich doch
Doch diese Art zu denken und zu kommunizieren ist ein Trugschluss, so praktikabel sich dieser auch immer erwiesen und zur Konstitution und zum Erfolg der westlichen Welt beigetragen haben mag. Geschichte wiederholt sich nicht? Eine Farce. Sie tut es doch, womit wir im Osten angelangt wären und dem Schauplatz eines Konfliktes, Krieges, der weit über die Ukraine hinausreicht.
Weil er uns, die Politik und Teile der westlichen Gesellschaft, so offensichtlich erschüttert, dass man mit Verlaub nicht glaubt, dass es dabei nur um die Sorge um den Donbass, Demokratie, um das zweitgrößte Flächenland Europas, auch nicht um verbilligtes Erdgas und nicht um das Völkerrecht geht, so oft es in den vergangenen Tagen auch bemüht wurde.
Nein, die Erschütterung reicht vielleicht deswegen so tief, weil die eingeübte Rationalität eines wie auch immer gearteten Fortschritts und ja, damit auch in mancher Sicht Rationalität überhaupt hintergangen wird. Ohne diese eingeübte, lineare Rationalität, ohne dieses wenn A dann B, schwindet aber die Geschäftsgrundlage des gepflegten Immer-weiter-so (wird schon irgendwie gut gehen und uns geht‘s ja auch gut, beziehungsweise: ging‘s).
Dieser bisweilen sehr mechanistischen Sicht- und Sprachweise wird nun eine eher manichäische entgegengesetzt, es gibt – nicht nur bei Putin – wieder so etwas wie „gut“ und „böse“, und mag das vermeintlich Gute in seinem Fall auch 100, ja sogar 1000 Jahre zurückliegen. Das Zurück aber ist bei uns nicht vorgesehen.
Damit kein Zweifel aufkommt: Die Fassungslosigkeit angesichts dessen, was da in der Ukraine, in Europa passiert, ist auch noch beim Schreiben dieser Zeilen zu spüren. Und doch und umso mehr gilt es, sich schreibend zu fragen, warum das so und was vielleicht schiefgelaufen ist. Warum es so schwer fällt zu verstehen, was da überhaupt gelaufen ist.
Wobei, abgeschlossen ist es ja noch lange nicht, im Gegenteil, und wie es jetzt allenthalben heißt, wird dieses Ereignis noch lange nachhallen, „in die Geschichte eingehen“. Das ist einerseits natürlich richtig, andererseits klingt das aber auch ein bisschen nach einer Art vorweggenommener Verdrängung oder genauer: der Hoffnung darauf, dass es schnell Vergangenheit sein möge.
Der Krieg, eine konkrete Bedrohung
Die Rede ist hier wohlgemerkt vom eingangs erwähnten Verarbeitungsmechanismus einer Gesellschaft, auf die keine Bomben fallen, in der keine Menschen sterben – und die den Krieg nur mehr als Angelegenheit für Historiker (wenn auch nicht den selbst ernannten im Kreml) angesehen hat.
Für unsere Nachbarn im Osten Europas war er aber schon lange eine ganz konkrete Bedrohung, und mit ihren Mahnungen und Warnungen sollten sie nun auf fürchterliche Weise recht behalten. Hätte man es also besser wissen müssen, statt schockiert von einem Tag auf den anderen in einer „anderen“ Welt aufzuwachen? Im Nachhinein weiß man immer alles besser, wie auch die zahlreichen Wortmeldungen und Kommentare der vergangenen Tage zeigen.

Fest steht aber auch, dass die Rede vom „Ende der Geschichte“, das der US-amerikanische Politologe Francis Fukuyama nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ausrief, schon immer eine hohle war. Es gibt wie gesagt kein Ziel von Geschichte und es ist ebenso wenig gesagt, dass sie sich zum Besseren entwickelt.
Und das hätte man freilich wissen können. Denn in Wahrheit endete nichts, endete die viel beschworene Ordnung nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nicht erst an diesem Tag des Kriegsbeginns, am 24. Februar 2022. Vielmehr verdeckte die damalige Utopie einer unipolaren Welt, die sich zwangsläufig zum Guten entwickle, nur die weiter bestehende Unordnung.
Gegenwart der Gleichzeitigkeiten
In Wahrheit leben und lebten wir – aller Illusion eines Fortschritts, also eines Fortschreitens zum Trotz – schon immer in einer Gegenwart der Gleichzeitigkeiten, des Nebeneinanders von kleinem Glück und großem Unglück. Und man muss dazu nicht einmal die Jugoslawien-Kriege, den 11. September 2001 oder sonstige Erschütterungen bemühen, die den Westen unmittelbar betrafen. Auch nicht ein Virus, das uns die Verletzlichkeit unserer Gesellschaft vor Augen geführt hat (und wie unsäglich wirken jetzt mit einem mal die ganzen Proteste und „Freiheit“-Krakeelereien).
Nein, überall auf der Welt gab und gibt es Katastrophen, Schrecken und Krieg. Irgendjemand schrieb dieser Tage, dass die junge Generation Letzteren nur noch aus Computerspielen kenne. Wenn damit eine unmittelbare Zeitzeugenschaft des eigenen Erlebens gemeint ist, mag das stimmen. Aber auch für den Großteil unserer Gesellschaft ist das Leiden der Welt ein vermitteltes, das man nur aus den Medien kennt. Ist es deswegen weniger real?
Realistischer vielleicht die These, dass hier lediglich etwas verdrängt wurde, was man aus der Individualpsychologie ja kennt und da durchaus Sinn ergibt – alleine, weil man ansonsten gar nicht mehr weitermachen könnte. Weitergemacht wurde aber, musste ja, in dem uns eigenen Modus einer nach vorne gerichteten Geschäftigkeit.
Und noch die in der aktuellen Krise eingangs eingeschlagene Logik „stufenweiser Sanktionen“ zeugt von dieser Auffassung der Realität als Problem bloßen Managements. Bloß: Was passiert, wenn jemand dieser Art von Rationalität nicht folgen will?
Die russische Grammatik kennt drei einfache Zeitformen, und für Putin scheint klar: Die Gegenwart ist nicht von Interesse, nur die Vergangenheit hat eine Zukunft. Und dass er bei seinem Versuch, ein wie auch immer geartetes Großreich zu reinstallieren, in Kauf nimmt, selbst bald Vergangenheit zu sein, macht es nur noch unberechenbarer. Wir sollten uns an den Gedanken gewöhnen, dass das auch für die Welt im Ganzen gelten könnte.