Wer die Krankheit nicht kennt, mag sich wundern. Denn das, was Ben seinen Leidensgenossen erzählt, ist für ihn ein bedeutender Teilerfolg, ein Schritt Richtung Normalität. „Ich habe spontan Fußball gespielt“, berichtet der 25-Jährige. „Fußball“, wiederholt er, als könne er es selbst noch nicht glauben. „Das hätte ich früher nie gemacht.“
Ben, dessen Namen wir auf Wunsch ebenso wie bei den anderen Betroffenen geändert haben, sitzt in einem Stuhlkreis mit drei anderen jungen Männern und einem Therapeuten. Das Mobiliar – Flipchart, Bücherregale, gepolsterte Stühle – könnte auch in einer Universität stehen, was gut zu Ben passt, denn er ist tatsächlich Student. In den vergangenen Jahren hatte er sich aber kaum für Vorlesungen interessiert, nicht für Freunde, schon gar nicht für Sport. „Das Spiel war meine größte Herausforderung“, sagt er, und genau deshalb sitzt er nun im Stuhlkreis. Ben ist abhängig. Seine Sucht: Computerspiele.
"Das hat mich selbst schockiert"
Bei Ben waren es die niemals endenden Schlachten von „World of Warcraft“, die ihn am Bildschirm fesselten. Millionen von Spielern loggen sich in die Online-Welt ein, um in die Rolle von Elfen, Orcs oder Druiden zu schlüpfen. Für die meisten ist das Zocken ein netter Zeitvertreib. Doch es gibt auch diejenigen, die sich in dem Fantasiereich verfangen. Für sie ist die „Ambulanz für Spielsucht“ der Uniklinik Mainz oft der letzte Ausweg. Die Nachfrage ist enorm: Seit Eröffnung der Einrichtung im März 2008 wurden mehrere hundert Patienten behandelt; im Durchschnitt müssen sie ein halbes Jahr auf einen Therapieplatz warten.
Patrick ist hin- und hergerissen. Auch er hat es geschafft, den PC mal auszulassen. Am Wochenende war er mit Freunden feiern, hatte eine gute Zeit. „Aber sobald ich zu Hause war, bin ich in alte Muster verfallen“, berichtet der 22-Jährige. Und dann wären da noch die Ausraster. „Ich hab‘ einen Aschenbecher gegen die Wand geworfen und eine volle Flasche Jack Daniel’s zertrümmert. Das hat mich selbst schockiert.“ Der Therapeut fragt nach, was der Auslöser für solche Wutanfälle sei. Patrick sinkt verschämt zusammen. „Wenn das Spiel nicht so läuft, wie ich will, raste ich aus. Dabei bin ich im echten Leben der ruhigste Mensch der Welt.“
In "World of Warcraft" gefangen
Die Leiden der Patienten, die in die Ambulanz kommen, gleichen sich. Die meisten sind zwischen 18 und 26 Jahre alt, fast immer männlich, in vielen Fällen sozial isoliert. In der Regel ist es die Abhängigkeit von Online-Spielen, die sie nach Mainz führt, manchmal auch ein nie endender Drang nach Internet-Pornografie oder sozialen Netzwerken. „Viele spielen so lange, bis ihnen die Augen zufallen“, sagt Kai Müller, Diplompsychologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Ambulanz. „Was für gesunde Menschen selbstverständlich ist, müssen wir den Erkrankten erst wieder beibringen.“ Das könne ein Spaziergang an der frischen Luft sein oder ein Treffen mit Freunden.
Zum Kennenlernen treffen sich Patient und Therapeut zuerst zum Einzelgespräch. Auf dem Stuhl sitzt Kilian (26); auch er kommt von „World of Warcraft“ nicht mehr los. Das Spiel fesselt ihn, allen voran die Möglichkeit, Gorillas zu zähmen. „Könnten Sie sich vorstellen, Ihre Hauptcharaktere zu löschen?“, fragt der Therapeut. Kilian wirkt schockiert. „Nein“, sagt er schließlich, „weil ich mit denen schon ziemlich viel mitgemacht habe.“
Nicht jedem kann geholfen werden
Um solche Muster zu durchbrechen, kommen die Patienten über 15 Wochen lang jeweils einmal pro Woche zur Gruppen-Therapie. Zusätzlich gibt es Einzeltermine. Doch in der Spielsucht-Ambulanz gibt es gewisse Grenzen, sagt Kai Müller. „Wenn jemand zwölf Stunden vorm PC sitzt, alle sozialen Beziehungen abgebrochen hat und keinen Tag-Nacht-Rhythmus mehr kennt, dann hilft nur noch die stationäre Behandlung.“ In Dortmund gibt es mit dem „Auxilium Reloaded“ das erste Wohnheim für Jugendliche mit riskantem Medienkonsum. Auch dort sind die Wartelisten lang.
Hinzu kommt ein bürokratisches Problem: Computerspielsucht galt lange Zeit nicht als eigenständige Krankheit. Gesetzliche Krankenkassen kamen in der Regel nicht für die Behandlung auf; Anträge mussten umständlich gestellt werden. Oder die Therapeuten diagnostizierten andere Leiden, die mit übersteigertem Medienkonsum einhergehen. Auf diese Weise wurden die Therapie- und Wohnkosten meist erstattet – nach allerlei Papierkram.
Als Krankheit anerkannt
Im Juni hat die Weltgesundheitsorganisation die „Gaming Disorder“ als Krankheit anerkannt. Wer darunter leidet, hat künftig ein Anrecht auf Behandlung. Noch ist es nicht soweit. Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung betont, dass Behandlungen „nicht sofort abrechnungsfähig“ seien, sondern frühestens 2019.
Auch in der Mainzer Spielsucht-Ambulanz ist die neue Regelung noch nicht angekommen. Um Rückfälle zwischen den Therapie-Sitzungen zu verhindern, gibt Müller seinen Patienten Hausaufgaben auf. Mal sollen sie feste Ausschalt-Zeiten für ihren PC ausprobieren, ein anderes Mal spazieren gehen, statt im Internet zu surfen. Dann kommen Blamier-Übungen: „Dabei sollen sich unsere Patienten einer stressigen Situation aussetzen“, erklärt Müller – etwa indem sie in der Tram aufstehen und ihren Namen rufen. „Für viele eine Horrorvorstellung“, sagt Müller. „Dabei haben die meisten Passanten die Szene nach einer Minute vergessen.“
Laut Müller können rund zwei Drittel der Behandelten ihr Suchtverhalten überwinden. Der Rest lasse sich unterteilen: in die, die Teilerfolge erzielten und die, bei denen sich keine Verbesserungen feststellen ließen. „Viele wünschen sich einen kontrollierten Konsum“, weiß Müller. Das kenne man von Alkoholikern. „Aber bei einer Suchterkrankung schließt sich das normalerweise aus. Deshalb setzen wir auf Abstinenz.“ Also keine Computerspiele.
Bei Ben hat es funktioniert. 15 Wochen nach Beginn der Therapie hält er sich noch immer von der virtuellen Welt fern. Auch Patrick beteuert, keine Aschenbecher mehr gegen die Wand zu werfen und Online-Spiele zu meiden. Und Kilian, der auf keinen Fall seine Avatare löschen wollte? „Hier verbuchen wir einen Teilerfolg“, sagt Müller. Kilian hat einen Job als Chemikant gefunden. Er spielt Volleyball, geht zum Leichtathletik-Training und trifft sich mit Freunden. Komplett verschmähen kann oder will der 26-Jährige die Spielewelt aber nicht. Sie ist für ihn ein wichtiger Teil des Lebens. Immer noch.
Spielsucht bei Kindern richtig deuten
Wenn Jugendliche viel Zeit am Computer oder Tablet verbringen, ist das allein noch kein Anlass zur Sorge. Wann es zur Sucht kommt und was Eltern dagegen tun können erklärt Uwe Büsching, Sprecher des Ausschusses Jugendmedizin im Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ):
- Hinweise auf Spielsucht: Isolieren sich Jugendliche immer mehr von Familie sowie Freunden, vernachlässigen Hobbys und nutzen Computerspiele als Flucht vor Problemen, kann das auf eine Spielsucht hindeuten. Süchtige beschäftigten sich auch abseits des Computers gedanklich fast ausschließlich mit dem Spiel und werden unruhig, wenn sie zu lange nicht in die Spielewelt eintauchen können.
- Spielen nicht komplett verbieten: Büschings Rat an Eltern lautet, das Spielen nicht als falsch oder als komplette Zeitverschwendung abzuwerten. Statt die Medien komplett zu verbieten, hält er es für sinnvoller, Jugendlichen feste Zeiten dafür einzuräumen und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich Zusatzzeiten zu erarbeiten. Man könne auch einen schriftlichen Vertrag aufsetzen.
- Inhalte kontrollieren: Außerdem sollten Eltern auf die Inhalte der Spiele und die damit verbundenen Altersbegrenzungen achten. (dpa)