Die Szene ist grauenhaft. Doch jeder, der diesen Prozess miterlebt hat, wird sie nicht mehr vergessen können. Denn sie ist unfassbar: Es ist hellichter Tag. Christian L. und Berrin T. gehen mit dem Sohn der Frau in einen Park. Der Junge muss L. dort befriedigen, seine eigene Mutter hält ihn fest, als er immer wieder versucht, sich loszureißen.
Es ist nur einer der grauenhaften Tatvorwürfe, die die Staatsanwaltschaft im Prozess gegen die beiden Angeklagten vor dem Freiburger Landgericht verlesen hat. Für fast jeden von ihnen gibt es belastendes Videomaterial. Seit 11. Juni läuft die Verhandlung gegen die 48-jährige Hartz-IV-Empfängerin und ihren 39-jährigen Partner, einen vorbestraften Sexualstraftäter, der sich zuvor an einer Minderjährigen vergangen hatte. Wer sind diese Menschen und was verbindet sie?
Christian L., gepflegtes Äußeres mit einem Hang zum Proll, hat sich in der Rolle des Selbstdarstellers im Gerichtssaal wiedergefunden. Anderthalb Tage sagte er aus in diesem Prozess, der die Bundesrepublik erschüttert.
Er scheint die Aufmerksamkeit zu genießen, berichtet ausschweifend von seinen Taten, aber auch seiner Kindheit und der Beziehung zu Berrin T. Sie dagegen sagt öffentlich kein Wort in dieser Verhandlung, scheut den Blickkontakt mit den Zuschauern, starrt meist nur vor sich auf den Tisch – als ginge sie das alles nichts an. Ihr wirres Haar mit den vielen kahlen Stellen lässt sie wie eine Obdachlose erscheinen. Schwer vorstellbar, dass diese beiden eine Liebesbeziehung geführt haben sollen.
Das Leben des Kinderschänders
Er war nie ein einfaches Kind, sagt Christian L. über sich selbst. „Verständlich, dass sie teilweise enttäuscht von mir ist.“ Er sei das Ergebnis einer Vergewaltigung, „so wurde es mir erzählt“, berichtet der Angeklagte. Auch seine Mutter sei in ihrer Kindheit missbraucht worden, als sie bei einer Pflegefamilie lebte. Er selbst sei vom Bruder seines Stiefvaters missbraucht worden, als er zwischen „sechs und neun Jahren“ alt war. Genauso alt, wie sein eigenes Opfer heute ist. Und wie der Junge heute kam er in eine Pflegefamilie. Zu seiner Halbschwester hatte er zumindest bis zu seiner Verhaftung offenbar ein engeres Verhältnis, auch sie soll Opfer zumindest psychischer Gewalt geworden sein. Christian L. gerät auf die schiefe Bahn, als seine erste Freundin ihn verlässt. Eine Kochausbildung auf einem Campingplatz in Münsterthal bricht er ab. Nach eigener Aussage rutscht er in ein „negatives Umfeld“ in Bad Krozingen ab, begeht Straftaten im Zusammenhang mit Betrug und Hehlerei, bis er für anderthalb Jahre in die Jugendhaft kommt.

Erstmals kommt er mit pornografischem Material in Berührung. Mit den Psychologen der JVA kommt er nicht zurecht. Nach seinem Wehrdienst wird ihm eine Laufbahn bei der Bundeswehr angeboten, doch Christian L. lehnt ab, aus Angst, in den Irakkrieg geschickt zu werden. Er zieht wieder zu seiner Mutter, arbeitet als Türsteher bei einer Disko, mit wechselnden Frauenbekanntschaften und parallelen Affären. Sein Spiel mit der Kamera beginnt, er nimmt Frauen dabei auf, wie sie ihn befriedigen. Ein bis zwei Mal hatte er auch Sex mit Männern, erzählt er. 2009 wird er wieder straffällig, als er sich an einer Minderjährigen vergeht. Die damals 13-jährige hatte eine zehn Jahre jüngere Schwester, an der Christian L. ebenfalls Interesse zeigt.
Doch erst 2015, als der Missbrauch an einem körperlich und geistig behinderten Mädchen im Alter von drei Jahren beginnt, will er seine pädophile Neigung bemerkt haben. Das Kind ist die Tochter von Jenny, der Christian L. zuvor Geld geboten hat, damit sie mit ihm ins Bett geht. Die Frau geht zur Tafel, so hat er sie kennengelernt. Dort arbeitet er eine Zeit lang, trifft auch Berrin T. Sie sei ihm aufgefallen, sagt der 38-Jährige später, weil „sie sich nichts hat sagen lassen“. Beide wurden vom Jobcenter dorthin geschickt, als „Arbeitsmaßnahme“ – Berrin T. wird hinausgeworfen.
Beginn einer perversen Beziehung
Von Anfang an weiß sie von der straffälligen Vergangenheit ihres Partners – und dessen Neigung. Es hält sie nicht davon ab, ein engeres Verhältnis mit ihm einzugehen. Sie wohnen nicht zusammen, aber Christian L. verbringt zunehmend Zeit bei ihr und ihrem Sohn. Es ist dieselbe Zeit, in der Berrin T. und Christian L. gemeinsam das dreijährige Mädchen brutal vergewaltigen. „Lieber das Mädchen“ als ihren eigenen Sohn, soll Berrin T. argumentiert haben. Doch ihre Hemmungen fallen schnell. Sie befolgt die Anweisungen ihres Partners, Filmaufnahmen davon zu machen, wie zunächst sie selbst sich an ihrem Kind vergeht, bevor sie es ihm überlässt.
Das Paar verbindet anfangs keine sexuelle Beziehung, erzählt der Angeklagte. „Sie hat mehr davon gehabt, wenn ich sie abends in den Arm genommen habe.“ Die sexuelle Ebene zwischen beiden sei erst hinzugekommen, als der Sohn der Frau vom Jugendamt in Obhut genommen wird. Christian L. beschreibt dieses Verhältnis mit derselben Belanglosigkeit in der Stimme, mit der er auch seine Taten gesteht. Die Beziehung, gibt er an einem der Verhandlungstage schließlich zu, habe sich aus reiner „Bequemlichkeit“ ergeben: „Sie hat mir alles serviert, was ich wollte.“ Ziemlich anhänglich sei sie gewesen, habe ihn regelrecht mit SMS und Chatnachrichten terrorisiert. Trotzdem schreibt er ihr: „Ich hab dich lieb.“
Zu Berrin T. scheint Christian L. ein zwiespältiges Verhältnis zu haben: Er zeichnet immer wieder das Bild einer Frau, die mit „Haushalt und mit dem Jungen überfordert“ gewesen sei. Als sie bei der Tafel rausgeschmissen wurde, habe sie sich „regelrecht gehen lassen“, sei „faul“ geworden. Nach ihrer Verhaftung stellen die Beamten Rückstände von Marihuana in ihrem Blut fest – die Nebenwirkungen passen zu den Beschreibungen, die Christian L. liefert. Um ihren Sohn habe Berrin T. sich ohnehin nie wirklich gekümmert, ihm nie das Gefühl von Liebe vermittelt. Der Junge machte sich offenbar selbst fertig für die Schule, wenn er zurückkehrte, wurde er auf sein Zimmer geschickt, berichtet er. Berrin T. sei „leicht reizbar“. Darauf deutet auch die Anklageschrift hin, die die Frau zum Teil wörtlich zitiert, wie sie ihren eigenen Sohn wüst beschimpft, während sie sich selbst an ihm vergeht oder dabei zusieht, wie es andere tun.
Mutter ohne Gewissen
Berrin T. hat mitgemacht – selbst eine aktive Rolle eingenommen, wie eine Kripobeamtin später aussagt. „Sie wusste ganz genau, was da abläuft“, sagt die junge Polizistin über jene Momente, in denen die Angeklagte ihren Sohn Christian L. und seinen anderen Peinigern überließ und das Zimmer verließ. Christian L. deutet an, dass die Mutter immer wieder gefragt habe, ob das geplante Vergehen „nötig“ sei. Doch eine Drohung des Angeklagten soll ausgereicht haben, um ihre Bedenken zu zerstreuen. Etwa, dass er sie verlassen würde. Das Bild der gezwungenen, wehrlosen Frau aber will ihr die Kripobeamtin, die sie später verhört, nicht abnehmen: Vielmehr habe sich Berrin T. selbst bemitleidet. Ihre erste Sorge galt dem Tabak, den sie sich im Gefängnis nicht wird leisten können, sagt die Polizistin aus. Offenbar konsumierte die Frau auch Marihuana – als einer der Ermittler den Richter darüber informiert, lächelt Berrin T., beinahe verwegen.
Ob die Angeklagte eine pädophile Neigung habe, fragt Staatsanwältin Nikola Novak Christian L. – Ja. Überhaupt schien diese Frau zu allem Ja zu sagen, was er von ihr wollte – so zumindest stellt der 39-Jährige es dar. Bereitwillig begleitete sie ihn zu den Treffen mit jenen Männern, an die ihr eigener Sohn verkauft wird. „Das hat sie wegen ihrer Gefühle zu mir gemacht.“ Nach seiner Beschreibung habe sie alles „richtig machen“ wollen. Was er meint, ist, dass sie es ihm recht machen wollte. Um jeden Preis. Im Lauf des Prozesses zeichnet sich jedoch ab, dass Berrin T. selbst Motive gehabt haben muss. Denn die 48-Jährige drehte aus eigenem Antrieb Videos – mit ihrem Sohn. Einige davon bekommt Christian L. nie zu Gesicht, sie werden später auf dem Smartphone der Mutter sichergestellt.
Christian L. bekommt Auflagen, er darf nicht mehr in die Wohnung von Berrin T. „Das wollte sie nicht einsehen“, sagt die Polizistin später: Die Frau habe stattdessen das Recht für sich beansprucht, ihren Freund sehen zu dürfen – einen vorbestraften pädophilen Sexualstraftäter. Als der Junge im Frühjahr 2017 in Obhut genommen wird, weil das Jugendamt den Umgang L.’s mit dem Kind verhindern will, soll sie „getobt“ haben. Die Staatsanwaltschaft hakt nach, warum. Christian L. ist sich sicher, dass es dabei nicht um das „Sexuelle“ ging, sondern um den Jungen. Trotzdem geht der Missbrauch mit ihrer Billigung weiter, als das Freiburger Familiengericht entscheidet, dass das Kind zu seiner Mutter zurückkehren soll. Christian L. darf sich ihm nicht nähern. Er tut es doch – die Vergewaltigungen werden ausgelagert, in die nähere Umgebung, in Ferienwohnungen. Einmal geht sie nach L.’s Aussage mit jenem Spanier essen, der zu einem der schlimmsten Peiniger des Kindes wird. Währenddessen vergeht sich ihr Partner an ihrem Sohn.
Die kranken Kunden des Paares
Der Mann, der sich als belgischer Kinderarzt ausgibt, hat weitreichende Pläne. Er will sich den Zugang zu dem Jungen über Jahre hinaus sichern, sich bis in dessen Jugendalter an ihm vergehen. Dafür sei er bereit gewesen, Christian L. und Berrin T. ein Haus zu finanzieren – inklusive Besuchsrecht „ohne Vorbehalte“, was das Kind betrifft. Von diesen Plänen soll Berrin T. noch nichts gewusst haben, Christian L. habe es ihr „noch sagen wollen“. In dieser Zeit hatte er bereits Kontakt zu einem Mann, der Tötungsfantasien gegen den Jungen hegte. Christian L. lehnt zwar ab, beendet aber nicht die Verbindung zu diesem Pädophilen, der den Codenamen Varga trägt. Die Kripo lockt ihn schließlich in eine Falle und nimmt ihn fest.
Wie Christian L. und Berrin T. ihre perfiden Taten weitergetrieben hätten, bleibt ungewiss. „Ich hatte nicht geplant, verhaftet zu werden“, sagt Christian L. nur spöttisch auf dahin gehende Fragen der Staatsanwaltschaft. Christian L. zeichnet das Bild eines Mannes, der die Regie führte, und einer Frau, die nur allzu bereitwillig seiner Leitung folgte. Die Anklageschrift aber zeichnet ein anderes Bild. Jenes einer Frau, die gewissenlos und ruchlos vorging, einer Mutter, die die „Übergriffe vollumfänglich billigte“. Es ist dieselbe Frau, die Christian L. angeblich liebt – auch heute noch. Die schweigende Angeklagte nickt nur, als er ihr seine Liebe gesteht. Ihr Gesicht bleibt ausdruckslos.
Die Beteiligten
im Staufen-Prozess
- Staatsanwältin Nikola Novak: Die erste Staatsanwältin am Landgericht Freiburg vertritt nicht nur bei der Hauptverhandlung die Anklage. Sie ist auch bei den Parallelprozessen gegen jene Männer beteiligt, an die Christian L. und Berrin T. ihren Sohn verkauft hatten. Sie zieht für die Angeklagten eine Sicherungsverwahrung in Betracht.
- Opferanwältin Katja Ravat: Die Anwältin für Strafrecht, Opferrecht und Sozialrecht einer Kanzlei in Gundelfingen war bereits an fast 200 Missbrauchsprozessen beteiligt. Die 42-Jährige vertritt in allen Verfahren den heute neunjährigen Jungen sowie ein dreijähriges Mädchen, das von Berrin T. und Christian L. missbraucht worden war.
- Verteidiger Matthias Wagner: Der Fachanwalt für Familien- und Strafrecht bekam für die Verteidigung von Berrin T. ein Pflichtmandat. Für die Aussage seiner Mandantin beantragte er den Ausschluss der Öffentlichkeit und berief sich dabei auf "Tatsachen aus dem engsten Persönlichkeitsbereich", die Berrin T. schildern werde.
- Verteidigerin Martina Nägele: Die Fachanwältin für Familien- und Strafrecht erhielt für die Verteidigung von Christian L. ebenfalls ein Pflichtmandat. Sie ist Teil einer Gemeinschaftskanzlei in Öhringen. Im vorliegenden Fall ließ sie Christian L. fast freie Hand bei seiner Aussage, die sich über anderthalb Prozesstage hinzog – nur selten bremste sie ihn.
- Gutachter Hartmut Pleines: Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie wurde als Gutachter zu dem Prozess berufen. Der Experte hat bereits in dem Parallelfall gegen den 50-jährigen Bundeswehrsoldaten, der sich an dem Jungen vergangen hatte, ein Profil des Angeklagten erstellt.
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