Jörg Zittlau

Die USA haben eine neue Krankheit. Oder zumindest eine halbe. Denn sie heißt: Prädiabetes, also Vorstufe zu Diabetes. Sie sollte, so die Forderung des führenden US-Diabetes-Fachverbandes, unbedingt behandelt werden, weil sonst schwere Schäden drohen. Doch Kritiker sehen hinter solchen Warnungen den verlängerten Arm der Pharma-Industrie, und auch deutsche Experten warnen davor, aus Prädiabetes eine Krankheit machen zu wollen.

Noch wollte Nance keinen Nachwuchs. Doch für später, wenn ihre Karriere als Ärztin vorangeschritten war, hatte sie schon einen Kinderwunsch. Also beschloss die Kalifornierin, einige ihrer Eizellen einfrieren zu lassen. Was laut ihrer Gynäkologin kein Problem wäre, aber sicherheitshalber sollte man vorher noch den Blutzuckerwert bestimmen, routinemäßig sozusagen.

Das ernüchternde Ergebnis dieses Tests: Nance hatte Prädiabetes. Die Vorstufe zu Diabetes Typ 2. Das müsse man, so die Gynäkologin, angesichts der Pläne für die spätere Schwangerschaft unbedingt behandeln. Also nahm Nance fortan das Diabetesmedikament Metformin. Obwohl sie sich – als Medizinerin und schlanke Frau von gerade mal 34 Jahren – nicht unbedingt als dessen typische Nutzerin gesehen hätte. Doch sie wusste, dass die American Diabetes Association (ADA) schon seit 2009 vor den Folgen eines unbehandelten Prädiabetes warnt. Und dafür müsse es ja gute Gründe geben.

Bild 1: Die umstrittene Diabetes-Vorstufe

Trick der Pharma-Industrie?

Dass die ADA gute Gründe für ihre Empfehlung hat, betont auch Charles Piller, der in dem renommierten Wissenschaftsmagazin Science den Fall von Nance beschreibt. Doch er sieht sie eher darin, dass viele Mitglieder dieser Organisation finanziell von der Pharma-Industrie unterstützt werden. Denn die profitiert, wenn Prädiabetes als behandlungsbedürftig eingestuft wird. Ganz zu schweigen davon, dass die ADA den für Prädiabetes maßgeblichen HbA1c-Wert – er misst das von Zucker besetzte Hämoglobin – vor einigen Jahren heruntersetzte, nämlich von 6,1 auf 5,7. „Dadurch wurden rund 72 Millionen neue potenzielle Patienten geschaffen“, warnt Piller. „Und es könnten Hunderte von Millionen mehr werden, wenn die neuen Werte nicht nur in den USA, sondern weltweit als Richtschnur eingeführt werden.“

Dabei ist überhaupt nicht gesagt, dass Prädiabetes am Ende tatsächlich in die Zuckerkrankheit führt. So kommt ein Forscherteam der Cochrane Library nach Analyse der wissenschaftlichen Datenlage zu dem Resümee: Knapp 60 Prozent der als Prädiabetiker eingestuften Patienten kehren innerhalb von elf Jahren wieder zu normalen Blutzuckerwerten zurück, und zwar von allein, ohne jegliche Behandlung. Weswegen Cochrane-Studienleiter Bernd Richter von der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf warnt: „Ärzte sollten vorsichtig mit der Behandlung von Prädiabetes sein.“ Man wisse nicht, ob sie mehr Schaden als Nutzen bringt.

Diabetes-Anfälligkeit gibt es dennoch

Andreas Fritsche von der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) warnt ebenfalls davor, aus Prädiabetes eine therapiebedürftige Krankheit zu machen. „Ich kenne auch niemanden in Deutschland, der dies ernsthaft plant“, so der Tübinger Internist und Diabetologe. Allerdings gebe es durchaus Patienten mit deutlichen Anzeichen für ein erhöhtes Diabetes-Risiko, und da könne man schon von Prädiabetes sprechen. „Doch die dafür notwendigen Kriterien sollten weiter gefasst werden, als es die ADA vorgibt“, betont Fritsche.

So besagt ein mäßig erhöhter HbA1c-Wert eigentlich nur, dass jemand eine Insulinresistenz hat, dass also seine Körperzellen weniger auf das Stoffwechselhormon Insulin reagieren als bei einem gesunden Menschen. Doch das allein lässt keinen verlässlichen Schluss auf ein erhöhtes Diabetesrisiko zu. „Für solch eine Prognose muss man sich auch diverse andere Dinge anschauen“, erläutert Fritsche. Wie etwa Bluthochdruck, Blutfette und Übergewicht. Und auch Fettleber und eine verringerte Insulinproduktion seien wichtige Kriterien für ein erhöhtes Diabetesrisiko. „Wer jedoch einen HBA1c-Wert von 5,8 hat und ansonsten bei guter Gesundheit ist, würde von mir nicht weiter behelligt werden“, betont Fritsche. „Ich würde ihm allenfalls raten, dass er sich mehr bewegt und nicht länger als ein Jahr bis zur nächsten Untersuchung warten sollte.“

Bild 2: Die umstrittene Diabetes-Vorstufe

Blutwerte zeigen Gefahren

Ganz anders sieht es jedoch aus, wenn der Patient zusätzlich erhöhte Blutdruck- und Blutfettwerte aufweist oder sogar schon eine Fettleber entwickelt hat. Damit steigt nicht nur das Diabetesrisiko, es drohen auch Erkrankungen an Blutgefäßen, Herz und Nieren – und dann bedarf es in der Tat einer effektiven Therapie. Doch das bedeutet nicht, dass man ein Medikament wie Metformin einnehmen muss. Denn das ist zwar bei Diabetes angezeigt, doch bei dessen Vorstufe hilft es nicht besser, als wenn der Patient sich zu einem Ernährungs- und Bewegungskurs durchringt. „Und wenn ich die Wahl habe zwischen annähernd gleich wirksamen Methoden, dann nehme ich doch lieber diejenige, die weniger Nebenwirkungen hat“, erläutert Fritsche. Und dazu zählen eben nicht die medikamentösen Verfahren. So führt Metformin nicht selten zu einem ausgeprägten Vitamin-B12-Defizit und bei mindestens jedem fünften Anwender zu Übelkeit und Durchfall.

Besser also, man versucht es bei Prädiabetes mit einer Änderung des Lebensstils. Was aber keinen Erfolg garantiert. In zehn bis 20 Prozent der Fälle wird der Betroffene trotzdem einen „ausgewachsenen“ Diabetes entwickeln. Diese Menschen werden zum Diabetespatienten, egal, ob sie ihr Leben umkrempeln oder Metformin einnehmen oder sogar beides tun. Das Erbgut kann eben bei der Erkrankung eine große Rolle spielen. Ein Grund zum Resignieren ist das nicht. Denn mittlerweile lässt es sich gut und auch lange mit Diabetes leben.