Nennen wir sie Emma, etwa zwei Jahre alt, sitzt auf dem Sofa und guckt sich mit Papa „ihre Bilder“ auf seinem Smartphone an, also einen Teil jener 5000 Fotos, die seit ihrer Geburt mit dem Handy entstanden sind. Emma in Windel, mit Schnuller, Selfie mit Emma, Emma krabbelt, dazwischen Videos: Emmas erste Schritte, Emmas erstes Brabbeln...
Eher wischen als sprechen
Und dann übernimmt Emma das Ruder, streift mit dem Finger über den Bildschirm des Vierecks, hoch und runter, tippt Fotos an, wischt nach links oder rechts zum nächsten Bild. Intuitiv gelernt durch Elternbeobachten. Eher wischen als sprechen.
Typisch für Emma und ihre Generation. Die Generation Alpha. Emma steht exemplarisch für diese neue Altersgruppe. Sie könnte auch Mia oder Emilia, Ben oder Paul heißen. Sie könnte schon in den Kindergarten oder in die erste Klasse gehen. Oder sie ist noch gar nicht geboren – denn zu der Generation werden alle Kinder gezählt, die zwischen 2010 und 2025 zur Welt kommen und für die sich Jugend-, Zukunfts- und Marktforscher bereits interessieren.
Nachhaltigkeit und Klimaschutz
Wie wird sie ticken, die Generation Alpha? In Kempten lebt und arbeitet Jugendforscher Simon Schnetzer. Nach der Begrüßung bietet er heißes Wasser und Salbeiblätter aus dem Garten an. Nachhaltigkeit und Klimaschutz werden auch für die Generation Alpha prägend sein, so viel ist schon mal klar. „Greta prägt auch sie“, sagt Schnetzer.
Er selbst ist Jahrgang 1979, also End-Generation-X oder Anfang-Generation-Y, und hat daheim zwei Exemplare der Generation Alpha. Der Volkswirt hat 1999 auf einer einjährigen Reise von Argentinien bis Kanada unzähligen Jugendlichen die Frage „Was bringt die Zukunft?“ gestellt, mit ihnen über Ängste und Erwartungen gesprochen. Seit 2010 ist er zudem viermal durch ganz Deutschland geradelt und hat junge Menschen befragt. 20 000 Jugendliche im deutschsprachigen Raum haben ihm inzwischen Antworten gegeben.
Der Beginn der Buchstabensuppe
Bevor er mit dem Heute und dem Morgen loslegt, geht es erst einmal ins Gestern. Zurück in die 1990er-Jahre, als Douglas Couplands Weltbestseller „Generation X“, der den Selbstfindungsprozess dreier Vertreter der Mitte der 1960er- bis Ende der 1970er-Jahre geborenen Altersgruppe beschrieb, die Bezeichnung für diese Generation so bekannt machte.
Das war einprägsamer und in Aufsätzen, Artikeln und Debatten einfacher zu gebrauchen als etwa der Begriff „Generationskohorte der Jahre 1965 bis 1979, die durch ähnliche Lebensstile, Erfahrungen, Werte und Weltanschauungen geprägt wurde“. Auf X folgte also Y und Z – manch einer sprach schon scherzend von „Buchstabensuppe“.
Aber dann war das lateinische Alphabet zu Ende. 2005 hatte der australische Soziologe Mark McCrindle die Idee, es den Meteorologen bei der Hurrikan-Benennung nachzumachen: Nach Z geht es einfach mit dem ersten Buchstaben des griechischen Alphabets weiter – passend für die erste Generation, die komplett im 21. Jahrhundert aufwachsen und auch so etwas wie eine Art gesellschaftlichen Hurrikan erleben wird, aber auch dazu: später mehr.
Alphas sind rund um die Welt ähnlich
Über Emma und ihre Generation kann Schnetzer abendfüllende Referate halten. Er hat sich ihre Eltern angesehen (zum Großteil aus der Generation X und Y, technikaffin, häufig beide berufstätig und nicht im Umfeld ihrer Eltern wohnend), er hat Statistiken ausgewertet (Mietpreise, Geburtenzahlen, Altersstrukturen), die Vorgängergeneration befragt, mit denen die Alphas in einigen Bereichen Überschneidungen haben werden (Ängste, Werte, Trends).
Und dann hat er viel nachgedacht und interpretiert. So viel ist klar: Alphas in Deutschland werden sich etwas von Alphas in Australien unterscheiden, weil auch regionale Besonderheiten die Jugend prägen, Armut, Krieg und Krisen etwa. Dennoch sei diese Generation durch das Internet so synchron wie nie zuvor, meint Schnetzer. Er und seine internationalen Forscherkollegen kommen auf folgenden gemeinsamen Nenner der Alphas: global, digital, sozial, mobil, visuell.
Was man für Deutschland sagen kann
Und speziell in Deutschland? Schnetzer meint: Emma wird höchstwahrscheinlich ein Wunschkind älterer Eltern sein, nicht im Stadtzentrum aufwachsen, weil die Mieten dort für viele Familien zu hoch sind. Sie wird in der Regel eine Kita besuchen, weil beide Eltern berufstätig sind. Der Leistungsdruck ihrer Eltern wird sich früh auf Emma übertragen. Mama und Papa versuchen, alles richtig zu machen, Emma auf Augenhöhe zu erziehen.
Der Klimawandel treibt die Gesellschaft gerade um. Emma wird in eine Krise reingeboren. Sie ist die erste Generation, die trotz Wohlstands mit existenziellen Ängsten aufwachsen wird. Was geschieht mit unserem Planeten? Können wir den Klimawandel stoppen? Die Angst vor der Zukunft, vor Krisen und Bedrohungen steige bereits, hat Schnetzer festgestellt. Gleichzeitig werde Familie wichtiger, weil ein sicherer Hafen in stürmischer See.
Ein globales Experiment mit Kindern
Emma gehört zur ersten Generation, die in eine Welt voller Smartphones geboren wird. Hier mal ein Filmchen beim Inhalieren oder Zähneputzen, da mal eins im Restaurant gegen das Quengeln, dort mal ein paar Bilder wischen. „Die Generation Alpha ist Teil eines unbeabsichtigten globalen Experiments, bei dem Bildschirme schon vor kleinsten Kindern zum Stillstellen, zur Unterhaltung und als Erziehungshilfe platziert werden“, sagte McCrindle in der New York Times und hat der Generation Alpha daher bereits einen Spitznamen gegeben: „Generation Glas“.
Schon bisher hat das Smartphone die Gesellschaft geprägt und verändert, sagt auch Simon Schnetzer. „Früher haben wir uns zum Fußball verabredet und wenn man doch keine Zeit hatte, fuhr man schnell zum Sportplatz, entschuldigte sich und sagte ab. Heute kommt fünf Minuten nach dem Anstoß bloß eine Absage per WhatsApp“, sagt Schnetzer.
Durch das Handy, die Allzeit-Erreichbarkeit habe die Verbindlichkeit abgenommen. Viele Aktivitäten, für die man früher das Haus verlassen musste, gibt es nun via Smartphone vom Sofa aus: statt Kino Netflix, statt Restaurant Essen bestellen bei Lieferando, statt Disco Spotify, statt Date in der Bar Tinder. Das klingt praktisch.
Der Mensch im Dauervergleich
Doch die schöne neue Smartphonewelt hat auch negative Folgen. Das Handy ist ein ständiger Begleiter, der permanent Statusmeldungen, Bilder vom tollen Leben der anderen, Filme von Influencern, die coolsten Marken aufploppen lässt – das beschert nicht nur einen Dauervergleich. Der Leistungsdruck steigt.
Wie komme ich an? Viele Z-ler seien bereits abhängig von Feedback, hätten Schwierigkeiten, sich festzulegen. Vielleicht kommt ja noch ein besseres Angebot. Das gilt im Job wie im Privaten. Und dann ist da noch die Angst, Fehler zu machen. Was, wenn ich etwas Ungeschicktes poste? Was, wenn auf der Party einer ein Bild macht, wenn ich betrunken bin, und das dann veröffentlicht?
Analog und digital werden eins
Emma wird nicht mehr zwischen analog und digital unterscheiden. Sie wird Schwierigkeiten mit Ruhe und Langeweile haben. Statt eine Nummer zu tippen, sagt sie ganz selbstverständlich: „Siri, ruf Oma an.“ Starke Währungen wie Wissen und Erfahrungen werden abgewertet. Wozu alles wissen, wenn man es googeln oder auf YouTube lernen kann? Respekt wird ihre Generation nicht mehr automatisch Alter, Titel, Traditionen oder Erfahrungen zollen, sondern Kompetenz und Authentizität.
„Veränderungen von Ordnungen wird für die Generation Alpha Normalität sein“, fasst Schnetzer zusammen. Die Eltern werden mehr Probleme haben, eine Perspektive zu vermitteln. Was wird er seinen Kindern raten, wenn durch die Technologisierung Berufsbilder wegfallen? Vielleicht sowas: Bleib kreativ und flexibel! Bilde dich immer weiter! Versuch‘s mit Selbstständigkeit! Vor allem will er seinen Kindern mitgeben: „Man kann die Dinger auch mal ausschalten.“ Meditieren, Waldbaden, digitale Auszeiten, Ruhe – jetzt schon wichtig, und nicht nur für Emma, eigentlich für alle in der globalen Generationen-Buchstabensuppe.
Die bisherigen Generationen
- Generation X: So werden die zwischen 1965 und 1979 Geborenen genannt. In Deutschland hieß die Generation X auch Generation Golf.
- Generation Y: Zu ihr zählen zwischen 1980/81 und 1994-99 Geborene. Es ist die letzte Generation, die eine Kindheit ohne Smartphone hatte.
- Generation Z: Bezeichnung für zwischen 1995-97 und 2010-12 Geborene. Erste Social-Media- und Smartphone-Generation (Digital Natives). Sie ist die letzte Generation, in deren Kindheit die Welt noch eine Ordnung zu haben schien.
- Generation Alpha: So werden zwischen 2010-12 und 2025-2029 Geborene genannt. Die erste Generation, die von frühester Kindheit Kontakt mit Bildschirmen und Künstlicher Intelligenz haben wird. Laut dem australischen Soziologen Mark McCrindle wird es auf der Welt insgesamt 2 Milliarden „Alphas“ geben. (lea)