Silvester 2021. Karl sitzt in seiner kleinen Wohnung im Nordschwarzwald. Draußen knallen die Raketen, drinnen ist es still. Bis eine Stimme die Ruhe zerreißt. „Ab sofort bist du online.“ Der Mann ist 29 Jahre alt, drahtig, hager. Für ihn ist es der Beginn einer neuen Realität. „Es war nicht wie ein Gedanke, sondern als ob jemand neben mir steht und mit mir spricht.“ Von diesem Tag an ist er nicht mehr allein.
Heute sitzt er auf einer Bank unter Reben auf dem Gelände des Zentrums für Psychiatrie der Gemeinde Reichenau, dreht sich eine Zigarette, spricht offen und ruhig. Seit gut zwei Jahren lebt er hier, auf diesem Abschnitt des Zentrums für Psychiatrie zwischen Stadt und Insel, untergebracht nach § 63 Strafgesetzbuch. Nicht, weil er eine Strafe absitzt, sondern weil Gutachter erklärten: schuldunfähig, aber gefährlich.
„Du bist gefangen“
Karl hat kurze Haare, einen kurzen Bart, ein markantes Gesicht. Die Fitness sieht man ihm an. Damals, 2021, war das anders, als er sich mit Drogen betäubte. Die Stimmen sind damals mit ihm ins Bett gegangen, und mit ihm aufgestanden. Sie redeten, kommentierten, verhöhnten. Mal freundlich, mal Befehle. Manche tragen Namen – Annalena Baerbock, Marilyn Manson, Till Lindemann. Andere bleiben gesichtslos. „Ich konnte mir nichts anderes erklären, als dass es wirklich so ist.“
Nach wenigen Wochen glaubt er, unsterblich zu sein. Nachts ermordet, morgens wieder lebendig. Gejagt von Freimaurern und Satanisten. In seiner Vorstellung foltern Politiker und Musiker Kinder, um an Adrenochrom zu gelangen – „eine Droge aus Kinderblut“. „Du bist gefangen“, sagt Karl heute. „Alles, was du denkst, bestätigt nur noch mehr, dass es stimmt.“
Reise nach Jerusalem
2022 reist er nach Jerusalem. Getrieben von der Idee, dort Antworten zu finden. Er läuft durch die Gassen, sieht die Klagemauer, Menschen, die beten. Für ihn sind das Zeichen. Er sucht Beweise für seine Auserwähltheit, für den Auftrag, den nur er versteht. Dämonen in Froschgestalt, Prüfungen, die er bestehen müsse. „Jerusalem-Syndrom“, sagt Karl dazu. Ein religiöser Wahn, biblische Bilder, die sich über sein Leben legten. Karl ist damit nicht allein: Jährlich kommen tatsächlich etwa 100 Menschen in die Stadt, überzeugt davon, eine biblische Person zu sein.
Karl wächst im Schwarzwald auf. Die Eltern trennen sich früh. „Das hat vieles verschoben.“ Mit zwölf der erste Joint. „Wir haben gekifft, wie andere Zigaretten rauchen.“ Alkohol, Amphetamine, Ecstasy kommen dazu, später LSD, Pilze, Opiate. „Das hat alles auf die Psyche geschlagen.“ Schlaflose Nächte, Tage ohne festen Rhythmus. Cliquen, in denen Drogen normal waren. Goa-Partys, auf denen er tagelang durchtanzte.
Von Silvester 2021 bis Herbst 2022 lebt er draußen mit den Stimmen. Im Oktober hebt die Polizei eine Cannabis-Plantage in seiner Wohnung aus. Ein kurzer Aufenthalt in einer Klinik folgt, er wird schnell wieder entlassen. Dann weiter Stimmen, weiter Konsum, weiter Wahn. Am 1. Dezember 2022 tritt er eine Ersatzfreiheitsstrafe in der JVA Rottweil an.
Ein Brand, der alles veränderte
In der Zelle ein älterer Mitgefangener. In Karls Augen ein „Froschwesen“. „In der Bibel steht von unreinen Geistern, die aussehen wie Frösche. Da wusste ich: Das ist er.“ Am 23. Dezember schlägt er den Mann. Danach das Feuer: Kabel aus der Wand, Matratze und Kleidung in die Flammen, nackt im Rauch. „In den Klamotten steckt ja auch wieder irgendeine Markierung, das musste weg von mir.“ Er hält sich ein nasses Handtuch vors Gesicht, wirft den Feuermelder ins Feuer.
Er zündet Kabel, Kleidung und Matratze an, alles verraucht. Mit einem nassen Handtuch vor dem Mund löscht er das Feuer wieder, bevor die Feuerwehr kommt. „Ich war komplett schwarz, voll mit Ruß“, sagt er. Die Beamten schicken ihn zum Duschen. Dort hört er ein Wort, das auch seine Stimmen benutzen. „Da war für mich klar: Auch die Wärter gehören dazu.“
Die Staatsanwaltschaft klagt ihn später wegen Körperverletzung und Brandstiftung an. Für Karl ist es die Nacht, die alles verändert. Danach Isolationszelle, dann Hohenasperg, das Krankenhaus für Gefangene in Baden-Württemberg. Zwei Monate, hohe Dosen Medikamente. „Die Stimmen gingen weiter, egal wie viele Pillen ich nahm.“
Medikamente morgens, abends Harry Potter
Nach zwei Monaten: Verlegung an den Bodensee. Karl landet wie alle Neuzugänge auf Station 70, der geschlossenen Akutstation. Eine neue Realität. Er erinnert sich vor allem an die Lautstärke: viele Menschen, unterschiedliche Krankheitsbilder. Für ihn fühlt es sich an, als gäbe er einen großen Teil seiner Autonomie ab.
Sein Alltag: Medikamente morgens und abends, Rauchen am Knopf in der Wand – Feuerzeuge sind verboten. Spaziergänge im umzäunten Hof, Brettspiele, ein Kicker, Malstifte. Essen nach Plan: morgens Brötchen, mittags Nudeln oder Kartoffeln, abends Brotzeit. Im Gemeinschaftsraum läuft der Fernseher, abends DVDs – Bud Spencer, Harry Potter, Herr der Ringe. „Es ist Beschäftigung, aber nichts, was dich wirklich ablenkt. Du bist ständig mit den anderen zusammen, du kannst dich nicht zurückziehen.“
Immer mehr passt nicht
Station 70 ist die Eingangsphase des Maßregelvollzugs. Hier geht es darum, Sicherheit zu gewährleisten – und zugleich Struktur und Orientierung zu geben. Ärztlicher Direktor Jan Bulla betont, dass die Station unter hohem Aufnahmedruck steht und die Mitarbeitenden dort unter schwierigen Bedingungen Herausragendes leisten. „Auch auf der Akutstation gibt es fachlich angemessene therapeutische Angebote.“
Karl bleibt zwei Monate. Routinen, erste Kontakte, die Arbeit des Teams – sie bereiten den Übergang vor. Dann der nächste Schritt: die Verlegung auf Station 71. Gruppentherapien, erste Gespräche. „Es gab immer mehr Dinge, die nicht ins Muster passten.“ Ein Anruf der Mutter, die er im Wahn für tot hielt. Das Wiedersehen mit dem Bruder, den er attackiert hatte.
Nicht schuldig, nicht frei
Auf Station 71 beginnt für viele der eigentliche therapeutische Weg. Hier sind die Patienten angekommen nach der ersten Akutphase. „Das sind überwiegend nach Paragraf 63 Untergebrachte, die die Eingangsphase hinter sich gebracht haben“, sagt Jan Bulla, der Ärztliche Direktor. „Nach einem rechtskräftigen Urteil sind sie verpflichtet, am Stationsalltag teilzunehmen. Wir simulieren dabei ein Stück weit das Leben draußen, mit festen Rhythmen, die viele gar nicht mehr kennen. Tagesstruktur, Arbeitstherapie, Sport-, Kunst- und Musikangebote gehören deshalb zum festen Programm.“
Im Juli 2023 verurteilt Karl das Landgericht Rottweil zur Unterbringung nach Paragraf 63. „Rückblickend war das gut so. Das habe ich gebraucht.“ Mit seiner Geschichte steht Karl nicht allein: Zum selben Zeitpunkt waren in Baden-Württemberg 805 Menschen nach Paragraf 63 untergebracht, so viele wie nie zuvor. Viele landen wegen einer Psychose und einer Körperverletzung im Maßregelvollzug: „Das ist der typische Fall nach Paragraf 63“, sagt Jan Bulla, der Ärztliche Direktor.
Manche Patienten machen Fortschritte, andere bleiben viele Jahre, manche mehr als ein Jahrzehnt. Und es gibt selten Menschen, die gar nicht mehr herauskommen. Auch Menschen mit Intelligenzminderungen oder zusätzlichen Erkrankungen sind untergebracht. In Baden-Württemberg liegt die durchschnittliche Dauer bei rund fünf Jahren, auf der Reichenau etwas darunter.
„Es ist fast wie eine normale WG“
Ein Jahr bleibt Karl auf der 71. Zunächst im Erdgeschoss, dann eine Etage höher, schließlich oben, im zweiten OG. Ein Einzelzimmer. „Allein sein zu können, die Tür schließen zu können – das war ein riesiger Unterschied.“ Mit jedem Meter nach oben gibt es ein Stück mehr Freiheit also. In dem Haus teilt man sich den Alltag mit Menschen, die ganz unterschiedliche Diagnosen haben – Psychosen, Intelligenzminderungen, schwere Verhaltensstörungen. „Man ist die ganze Zeit unter Stress“, sagt Karl. „Du bist gezwungen, mit diesen Menschen zusammenzuleben. Das ist eine krasse Belastung.“ Und einmal erlebt er hier, wie sich ein Mitpatient das Leben nimmt.
Heute lebt Karl in Haus 15, Station 74. Eine Wohngruppe mit Küche, zwei Bädern, vier Toiletten. „Es ist fast wie eine normale WG.“ Pfleger im Büro, Anwesenheitspflicht am Abend, wöchentliche Urinproben. „Seit ich hier bin, geht es mir um hundert Prozent besser.“
Die ersten Lockerungen waren klein. Ein Spaziergang draußen, immer in Begleitung. „Am Anfang fühlt sich jeder Schritt draußen riesig an“, sagt Karl. Später durfte er allein hinaus. Heute kann er zum Supermarkt gehen. „Da darf man erstmal nur zum Lidl und zurück, sich ein paar Sachen einkaufen.“ Für Karl ist das jedes Mal wie eine Prüfung. Ein Stück Freiheit, aber immer begrenzt.
Das Leben draußen
Jan Bulla beschreibt, wie streng dieser Weg geregelt ist: „In der vorläufigen Unterbringung gibt es grundsätzlich keine Lockerungen. Lockerung heißt: Das Gelände ohne Sicherung verlassen – zunächst in 1:1-Begleitung. Sobald sich der Gesundheitszustand bessert, jemand absprachefähig ist und wir das Risiko als gering einstufen, müssen wir solche Lockerungen auch genehmigen.“ Für Karl bedeutet das Normalität – Schritt für Schritt, tastend, aber in Richtung Freiheit.
Inzwischen darf Karl auch zur Berufsschule an den Hochrhein fahren. Er darf sich in ganz Baden-Württemberg bewegen. Für ihn ist das fast wie Urlaub: ein Tag unter normalen Leuten, Unterricht, Pausenhof, Gespräche. Er schläft dann auch auswärts. Nur wenn er nach seinem Ausweis gefragt wird, muss er ein anderes Dokument vorzeigen, auf dem seine Unterbringung vermerkt ist.
Er macht eine Ausbildung im handwerklichen Bereich, im dritten Lehrjahr. Arbeitet auf Baustellen in Konstanz und Singen. Geht ins Fitnessstudio, achtet auf Ernährung. „Ich konsumiere nicht mehr. Ich habe eingesehen, dass ich eine Krankheit habe.“ Er spricht von den Pausen auf der Baustelle, vom Gefühl, „draußen“ zu sein, auch wenn er am Abend zurück muss.
Ein guter Tag, das heißt „offline“
Ganz verschwunden sind die Stimmen nicht. „Manchmal verhöhnen sie mich, sagen: Karl, halt die Fresse. Aber sie sind blöd geworden, nicht mehr intelligent wie am Anfang.“ Die großen Wahnvorstellungen haben ihre Macht verloren. „Wie jemand Diabetes hat, so habe ich Schizophrenie. Das wird bleiben.“
Karl will die Ausbildung beenden, in eine eigene Wohnung ziehen. Nicht zurück in den Schwarzwald, sondern mit Abstand. „Es ist eine lebenslange Aufgabe, jedes Treffen ist wie eine Prüfung. Aber ich glaube, ich schaffe das.“
Wenn die Stimmen leiser sind, nennt er das „offline“. „Es gibt gute und schlechte Tage. Heute ist ein guter Tag. Die Stimmen sind nicht laut.“ Offline – das bedeutet Ruhe. „Dann fühle ich mich frei“, sagt er. „Darauf arbeite ich hin.“