Herr Bernatzky, die Lawinengefahr in weiten Teilen der Alpen ist nach wie vor hoch. Warum fahren trotzdem so viele Wintersportler abseits der Pisten und riskieren ihr Leben?
Es ist schwer nachzuvollziehen, warum man sich und andere unter diesen Bedingungen in Lebensgefahr bringt. Ein möglicher Grund ist die vermeintliche Sicherheit. Einige Skifahrer schätzen die Situation völlig falsch ein. Touristen müssen sich unbedingt bei ortskundigen Personen oder Liftbetreibern erkundigen. Aber auch erfahrene alte Hasen, die schon seit vielen Jahren auf den Pisten unterwegs sind, sind bedroht.
Das mag paradox klingen, aber sie nehmen die Gefahr möglicherweise auf die leichte Schulter, weil sie schon viel erlebt haben und sicher sind, jede Risikosituation zu bewerkstelligen. Auch die gute Ausrüstung, wie Lawinen-Airbags und Ortungsgeräte, vermittelt manchmal zu viel Sicherheit. Die Wintersportler sind meistens fast schon zu gut vorbereitet und denken, dass sie alles unter Kontrolle haben. Hinzu kommt manchmal der Gedanke: „Dort ist noch nie eine Lawine abgegangen.“ Doch die Natur lässt sich nicht gänzlich kontrollieren.
Spielen auch der Kick und der Nervenkitzel eine Rolle?
Mit Sicherheit, denn dieser Nervenkitzel kann irgendwann sogar zur Sucht werden. Die Skifahrer können dann gar nicht warten, bis sich die Lage in den Bergen gebessert hat, sondern müssen am nächsten Tag raus und in den Tiefschnee – ganz egal, ob die Gefahr hoch ist oder nicht.
Ist Lawinenwarnstufe vier oder fünf dann ein besonderer Reiz, das Leben zu riskieren?
Ich glaube nicht, dass es ein besonderer Kick ist, bei dieser Lawinenwarnstufe zu fahren. Das wird in den meisten Fällen leider gar nicht mit einkalkuliert. Eher der ständige Drang, das Abenteuer zu suchen – egal wie widrig die Bedingungen auch sind – macht die Gefahr dann aus. Und wenn der Drang so hoch ist, schätzt man die Gefahr schnell falsch ein. Und dann passieren die Unfälle.
Wie schafft man es, als erfahrener Wintersportler nicht leichtsinnig zu werden?
Ich habe viel Erfahrung im Leistungssport und war mit der österreichischen Wintersportmannschaft bei den Olympischen Spielen in Pjöngchang. Spitzensportler wissen, dass sie sich nach einem Sieg nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen können und dadurch leichtsinnig werden. Es gilt, sich etwa auf den nächsten Skisprung wieder so vorzubereiten, als wäre dieser einzigartig.
Hinter jeder Leistung, die scheinbar leicht von der Hand geht, steckt eine Menge akribische Vorbereitungszeit und eine Checkliste, die es immer wieder zum abarbeiten gilt. Und das rate ich auch den Wintersportlern, die abseits der Pisten fahren. Gründlich im Vorfeld informieren, den Schnee immer genauestens untersuchen und prüfen, welche Anpassungen die aktuellen Tagesbedingungen erfordern.
Wenn man auf die Statistik schaut, fällt auf, dass Männer öfter von einer Lawine erwischt werden. Können Sie sich das erklären?
Für mich gibt es dafür keine logische Erklärung. Das würde ja bedeuten, dass Männer mehr im freien Gelände fahren als Frauen und Männer risikobereiter wären, als Frauen. Ob das wirklich so ist, kann ich nicht genau bewerten.
Auch junge Skifahrer zieht es auf geschlossene Berghänge. Sie prahlen in sozialen Netzwerken mit waghalsigen Aktionen. Warum können sie die Gefahr nicht einordnen?
Die Selbstdarstellung ist dann wichtiger als das eigene Leben. Das ist fatal. Indem die Freerider (Anmerkung der Redaktion: Skitouring und Freeriding bezeichnet das Skifahren auf freiem Gelände) auf Berghängen fahren, wo niemand zuvor fuhr, sind sie etwas Besonderes. Diese Jugendlichen suchen nach Individualität und Einzigartigkeit – auch in der Natur. Und auf dieser Suche wird der Risikosport dann auf einmal zum Hype und Mainstream.
Können Sie sich erklären, woher dieser Drang kommt, wieder raus in die Natur zu wollen?
Wir sind in unserem Alltag alle einer ständig wachsenden Reizüberflutung ausgesetzt. Einige Menschen versuchen, dieser zu entfliehen und gehen deshalb in die Natur. Beim Freeriden kann man Abenteuer und Natur perfekt miteinander verbinden. Wenn man abseits der Pisten fährt, können sich diese Reize reduzieren und man spürt nur noch Adrenalin und sich selbst. Manche sogar gleichzeitig eine gewisse Ruhe und eine Verbindung zur Unberührtheit der Natur.
Das hört sich so an, als könnten Sie dem Kick etwas Positives abgewinnen. Trügt der Eindruck?
Diese Erfahrungen abseits der Piste können sich auf den Alltag schon positiv auswirken, aber dafür ist ein bewusster Transferprozess nötig. Man kann also nicht pauschal sagen, dass Freerider grundsätzlich besser mit Stress umgehen. Wenn man sich aber bewusst macht, welche Qualitäten man einsetzt, um sportliche Stresssituationen zu bewältigen, kann man diese auch im beruflichen Kontext nutzbar machen.
Ein Beispiel: In einer Gefahrensituation Ruhe und einen klaren Kopf bewahren. Dies ist im Sport und im Alltag gleichermaßen wichtig. Wenn es jedoch, so wie aktuell offensichtlich und auch von den Behörden klar kommuniziert ist, dass ich mich und vor allem andere gefährde, ist jeglicher Gedanke an etwas Positives daran fehl am Platz! Wer jetzt da rausgeht und auf freiem Gelände Ski fährt, der schätzt die Situation völlig falsch ein und setzt das Leben seiner Mitmenschen aufs Spiel.
Zur Person
Patrick Bernatzky studierte Sportwissenschaft und Psychophysiologie und ist im Fachbereich Sportpsychologie an der Universität Salzburg tätig. Der Mentalcoach und Mitarbeiter beim Österreichischen Netzwerk der Sportpsychologie arbeitet eng mit Spitzensportlern zusammen. Er betreute sie bei den Olympischen Spielen in Pjöngchang.
Die richtige Ausrüstung kann Leben retten
Wer abseits der Pisten auf Skitour geht, der muss vor allem auf eines achten: Sicherheit. Eine Grundausrüstung sollte jeder sogenannte Freerider bei sich haben. Ein Lawinenverschüttetengerät, eine Sonde, die das Signal verstärkt und eine Schaufel. Für Wintersportler, die öfter das Abenteuer suchen, empfehlen Experten auch ABS-Rucksäcke, die dafür sorgen, dass man in einer Lawine auf der Oberfläche bleibt.
- Verschüttetensuchgerät: Das Lawinenverschüttetensuchgerät, kurz LVS-Gerät, hilft, den Verschütteten schnell zu finden. Für verschüttete Lawinenopfer zählt im Ernstfall jede Sekunde. Laut Rudi Mair vom Lawinenwarndienst in Tirol überleben rund 80 Prozent der Skifahrer, die in den ersten 20 Minuten von der Bergrettung gefunden werden. Danach sinken die Chancen für Verschüttete drastisch. Die Geräte halten Temperaturen von minus 30 Grad bis plus 70 Grad Celsius stand. Abseits der Pisten sollen sich Wintersportler nur in Gruppen aufhalten. Die einzelnen Skifahrer sollten dann mit großem Abstand voneinander entfernt fahren. Dadurch ist die Chance höher, dass nicht alle von einer Lawine erfasst werden. Die Gruppenmitglieder, die sich noch rechtzeitig vor der Lawine schützen konnten, suchen dann mit ihren LVS-Geräten und können so das Signal der Verunglückten orten. LVS-Geräte können zwischen 20 und 60 Meter weit funken. Das Suchgerät gehört in jeden Skirucksack. Fachhändler bieten günstige Geräte für rund 100 Euro an. Nach oben sind jedoch keine Grenzen gesetzt.
- Sonde: Mit einer Sonde kann der Verschüttete genau geortet werden. Während das LVS-Gerät die Position anzeigt, gibt der Lange Stab Aufschluss darauf, wie tief und wo genau das Lawinenopfer verschüttet wurde. Auch eine Sonde gehört zur Grundausrüstung. Sie sollte mindestens 2,4 Meter lang und nicht zu dünn sein, weil sie sonst auf harten Schichten beim Sondieren ausschert. Günstige Varianten kosten 25 Euro. Hochwertige Produkte können mehrere Hundert Euro kosten.
- Schaufel: Auch eine Lawinen-Schneeschaufel gehört zur Grundausrüstung von Freeridern. Mit dem Werkzeug können Winrtersportler verschüttete Skifahrer schnell ausgraben. Gerade um harte Schneeschichten unter der Oberfläche zu durchdringen, benötigt man zwingend eine Lawinen-Schneeschaufel. Wer alle drei Werkzeuge dabei hat, hat gute Chancen, zu überleben oder andere Skifahrer vor dem Ersticken zu retten. Lawinen-Schneeschaufeln kosten im Fachhandel rund 50 Euro.
- ABS-Rucksack: Das Avalanche-Airbag-System, kurz ABS-System, oder der ABS-Rucksack, sorgt bei einer Lawine dafür, dass der Skifahrer auf der Oberfläche der Lawine bleibt und nicht verschüttet wird. Der Rucksack besteht aus zwei Ballons, die durch Zug an einem Griff an der Vorderseite des Rucksacks, aufgeblasen werden. Mithilfe einer Stickstoffpatrone werden die Airbags innerhalb von wenigen Sekunden aufgeblasen. Die Rucksäcke kosten zwischen 100 und 800 Euro und sind deshalb bei Freeridern, die oft das Abenteuer auf freiem Gelände suchen, sehr beliebt. Für Wintersportler, die selten abseits der Pisten fahren, lohnt sich die Investition eher nicht.
Zwei gefaltete Ballons sind seitlich in den ABS-Rucksack integriert. Mit einem Auslösegriff oder neuerdings auch per Funkfernsteuerung durch einen Kameraden werden die Ballons blitzschnell aus einer Patrone mit Argon-Gas gefüllt. Beinahe 98 Prozent der Wintersportler, die bei einem Schneebrettabgang einen solchen Airbag trugen und auslösten, überlebten annähernd unverletzt, ermittelte das Eidgenössische Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) in Davos bereits im Jahr 2010. | Bild: ABS - Mit Ausrüstung trainieren: Bevor Wintersportler abseits der Pisten die Berge hinunterfahren, sollte der Ernstfall mehrmals geprobt werden. „Ohne Übung ist auch die beste Ausrüstung wertlos“, sagt Lawinenexperte Rudi Mair. Lawinenkurse, die oft von Bergrettern angeboten werden, können dabei helfen, den Umgang mit den Geräten zu trainieren. (sku)