Als die Nichte des Angeklagten von Richter Arno Hornstein gefragt wird, ob sie es sich vorstellen könnte, dass Sergej J. zu einer solchen Tat fähig sei, nickt sie und sagt: „Ja. Bei Irina S. schon.“

Vor dem Landgericht Konstanz zeichnet sich ein Bild einer instabilen On-Off-Beziehung: Mal trennten sich Sergej J. und Irina S. (beide Namen geändert), mal kamen sie wieder zusammen. Mal zog er in ihre Wohnung ein, dann wieder aus.

Das Spiel wiederholte sich – bis aus dem Beziehungsmuster mutmaßlich eine Straftat wurde. Jetzt wird dem 41-jährigen Ukrainer vorgeworfen, seine ebenfalls ukrainische Ex-Frau in zwei Fällen vergewaltigt zu haben. Er muss sich vor dem Landgericht Konstanz verantworten.

Erst durch einen Bekannten rief sie die Polizei

Es passierte Anfang März. Laut Anklage soll Sergej J. seine Ex-Frau Irina S. bei ihrer Wohnung abgepasst haben. Schon öfter habe er ihr dort aufgelauert – an diesem Tag habe sie es aber nicht geschafft, vor ihm in die Wohnung zu gehen. Er habe sie in die Wohnung verfolgt, im Flur auf den Boden gedrückt. Er habe sie und sich nackt ausgezogen. Dann soll er gegen ihren Willen in sie eingedrungen sein.

Danach sei für rund einen Monat Funkstille gewesen. Laut Anklageschrift habe der 41-Jährige dann im April dieses Jahres die Tür zur Wohnung seiner Ex-Frau eingetreten, habe in der Küche angefangen, sie zu berühren, zu küssen.

Im Sitzungssaal 1.60 des Landgerichts Konstanz werden zwei mutmaßliche Vergewaltigungen verhandelt.
Im Sitzungssaal 1.60 des Landgerichts Konstanz werden zwei mutmaßliche Vergewaltigungen verhandelt. | Bild: Marina Schölzel

Wieder soll er ihre Hosen heruntergerissen, sie intim berührt und mit den Fingern penetriert haben. Als sie dann angefangen haben soll zu weinen, habe er von ihr abgelassen und gesagt: „Das erregt mich gar nicht.“

Per WhatsApp habe Irina S. es geschafft, einen gemeinsamen Freund zu alarmieren. Erst dieser motivierte sie dazu, die Polizei einzuschalten. Seitdem sitzt Sergej J. in Untersuchungshaft – und Irina S. ist in psychotherapeutischer Behandlung.

Beide flüchteten vor dem Krieg

Irina S. und Sergej J. sollen sich schon seit 2011 kennen. Im Jahr darauf sollen sie geheiratet haben, die Scheidung sei im Jahr 2019 noch in der Ukraine vollzogen worden. Für zwei oder drei Monate seien sie getrennt gewesen, ehe sie wieder zusammenkamen.

2022 floh Irina S. dann vor dem russischen Angriffskrieg zu ihrer Mutter nach Hilzingen (Landkreis Konstanz). Der Angeklagte habe kurz darauf die Ukraine auf illegale Weise verlassen und zog ihr nach – und nach einem Aufenthalt in einer Erstunterkunft wieder bei Irina S. ein.

Körperliche Gewalt Teil der Beziehung

Schon am ersten Verhandlungstag sagte der Angeklagte aus. Sergej J. wies die Vorwürfe von sich, vieles Gesagte sei durch Übersetzungsfehler vom Ukrainischen ins Deutsche falsch übermittelt worden. Er habe niemanden vergewaltigt – er habe nur versucht, die Beziehung zu retten.

Als Irina S. am zweiten Verhandlungstag vor dem Landgericht Konstanz selbst zu Wort kommt, zeigt sich, dass schon vor der Tat viel Gewalt im Spiel gewesen sein könnte.

Schon im Januar habe der Angeklagte Irina S. nach einem Streit ins Gesicht geschlagen, sodass ihre Lippe aufplatzte. Anschließend habe sie ihn aus der Wohnung geworfen.

Daraufhin sei er ausgezogen, habe sich Irina S. aber wieder angenähert. Eigentlich habe sie das nicht gewollt – sie wusste von einer anderen Frau, die Sergej J. in der Zwischenzeit kennengelernt habe.

Sie sei doch die Liebe seines Lebens gewesen

Der Teufelskreis wiederholte sich: Sie versöhnten sich laut ihrer Aussage, dann trennten sie sich wieder. Daraufhin habe er sie „terrorisiert“, sagt Irina S.. Der Angeklagte habe sie kontaktiert, ihr geschrieben, dass er ohne sie nicht leben könne, dass Irina S. einfach verwirrt sei, dass sie doch die Liebe seines Lebens sei. Er habe sie gestalkt, sie vor ihrem Fitnessstudio aufgesucht, bei ihrem Deutschkurs, in ihrem Zuhause. Irina S. sei zur Polizei gegangen, sagt sie im Vernehmungsvideo. Sie wollte Anzeige erstatten, dort habe man ihr gesagt, dass sie mehr Beweise brauche.

Immer wieder sei er bei ihr aufgetaucht, habe ihr gesagt, dass er die Beziehung zu der anderen Frau beendet hätte. Sie habe nachgegeben, doch gänzlich vertraut habe sie ihm nicht mehr: „Vielleicht habe ich einfach einen schwachen Charakter, dass ich mich nicht gegen ihn stemmen konnte“, sagt Irina S.. „Oder vielleicht tat er mir einfach leid.“

Sergej J. sei dann aufdringlich geworden, habe viel Aufmerksamkeit verlangt, sie habe stets für ihn kochen sollen, übersetzen sollen, für ihn da sein sollen. Er habe sich „aufgeführt wie der allmächtige König“, sagt Irina S, bis die Situation erneut eskalierte.

Ein Fehler in der Übersetzung?

Wieso Irina S. nicht nach der ersten, mutmaßlichen, Vergewaltigung direkt zur Polizei ging? Ihr Ex-Mann habe ihr Zugang zum Handy verwehrt, sagt sie, sie habe keine Polizei rufen können.

Außerdem sei sie nach einem Schlag ins Gesicht vom Angeklagten mit ihrer Mutter als Dolmetscherin bereits bei der Polizei gewesen. Dort habe man ihr gesagt, dass es keinen Sinn ergebe, erst Tage nach einer Tat eine Anzeige zu erstatten. Das müsse noch am selben Tag erfolgen. Das sei ein Missverständnis gewesen, wird Irina S. im Video von der vernehmenden Beamtin aufgeklärt.

Aus dem Bekanntenkreis habe sie gehört, dass Anwälte teuer sei, sagt Irina S.. Deshalb habe sie auch nie versucht, ein Annäherungsverbot zu erwirken. „Ich weiß doch nicht, wie das System in Deutschland funktioniert“, sagt Irina S..

„Ich habe diesen Menschen geliebt. Aber er hat mir sehr oft wehgetan“, sagt Irina S. abschließend. „Wir wollten vieles klären, einen gemeinsamen Nenner finden, aber er belog mich nur.“

Die Hauptverhandlung soll am 22. Oktober fortgesetzt werden. Laut Paragraph 177 des Strafgesetzbuches droht dem Angeklagten eine Freiheitsstrafe von zwei bis 15 Jahren.